Dora Witte – Biographie

Dora Agnes Witte wird am 22. Februar 1899 als erstes Kind von Johann Heinrich Willers und Anna Willers in Hurrel geboren. Sie ist die ältere Schwester von Bernhard Willers und Anni Johanne Willers. Darüber hinaus hat sie mit Alma Schwarting noch eine Halbschwester aus einer früheren Beziehung ihrer Mutter.

Im Februar 1899 beginnt der Rüsselsheimer Nähmaschinen- und Fahrrad-Hersteller Opel mit der Produktion von Automobilen. Das erste Modell, der Opel Patentmotorwagen, geht zurück auf eine Entwicklung des Dessauer Konstrukteurs Friedrich Lutzmann. Dieser gehört neben Carl Benz und Gottlieb Daimler zu den Pionieren des deutschen Automobilbaus und hatte sich einen Monat zuvor in den Dienst von Friedrich und Wilhelm Opel gestellt. Mit dem neuen Geschäftsfeld, für das sie die komplette Ausrüstung Lutzmanns in Dessau aufgekauft und nach Rüsselsheim verbracht haben, wollen die Söhne des 1895 verstorbenen Firmengründers Adam Opel die schon länger anhaltende Flaute der Fahrrad-Sparte kompensieren: Dort hatten zahlreiche Wettbewerber zu einer Überproduktion und in der Folge zu stark rückläufigen Gewinnen geführt.

Die unter großen Erwartungen gestartete Zusammenarbeit entwickelt sich jedoch anders als erhofft. Die nach Lutzmanns Vorgaben individuell angefertigten und je nach Modell-Variante zu Preisen zwischen 2.000 und 3.500 Mark verkauften Motorwagen gelten schnell als technisch überholt, woraufhin Opel den zwei Jahre zuvor mit Lutzmann geschlossenen Vertrag 1901 vorzeitig aufkündigt. Bis dahin wurden gerade einmal 65 Exemplare ausgeliefert. Um die brachliegenden Kapazitäten auszulasten, kommt im selben Jahr die Produktion von Motorrädern hinzu. Gleichzeitig schauen sich Friedrich und Wilhelm Opel nach Alternativen um und schließen nach dem Besuch des Pariser Autosalons einen Kooperationsvertrag mit dem französischen Hersteller Renault.

Die Brüder Louis, Fernand und Marcel Renault hatten ihre Automobil-Fabrik am 25. Februar 1899 gegründet. Weil sie jedoch auf absehbare Zeit nicht in dem gewünschten Umfang liefern können, nimmt Opel mit Alexandre Darracq einen weiteren aufstrebenden französischen Hersteller ins Boot. Ende 1901 erhält Opel das Alleinvertretungsrecht für dessen Fahrzeuge im Deutschen Reich und montiert darüber hinaus ab 1902 in Rüsselsheim eigene Aufbauten auf Darracq-Fahrgestelle. Auf dieser Basis entsteht im Herbst 1902 der Opel 10/12 PS, mit dem sich Opel schon bald als eigenständiger Hersteller etabliert.

Zu diesem Zeitpunkt lebt Dora noch in Hurrel – am 27. Juni 1903 wird dort Schwester Anni Johanne geboren. Vermutlich in einem der damals in größerer Anzahl vorhandenen Heuerhäuser, denn Doras Familie, zu der neben den Eltern und Geschwistern auch ihre Großeltern Anna und Johann Diedrich Bührmann gehören, verfügt im Dorf über keinen Grundbesitz. Vater Johann Heinrich wird in amtlichen Quellen jener Jahre wahlweise als Ziegeleiarbeiter oder Heuermann bezeichnet.

Vermutlich nach dem Tod von Großvater Johann Diedrich Bührmann im Mai 1904 verlässt die Familie Hurrel Richtung Hude. Wo genau sie dort lebt und wo Dora wahrscheinlich ab April 1906 die Schule besucht, liegt heute im Dunkeln. Überliefert ist lediglich, dass Schwester Anni Johanne unmittelbar zuvor – am 31. März 1906 – im als Stiftung des Reeders Bernhard Rudolph Kückens eingerichteten Krankenhaus in Berne (heute: Kückens Altenpflegeheim) stirbt. Weshalb sie dort eingeliefert wurde, geht aus dem Sterbebuch der Kirchengemeinde Hude nicht hervor.

Wenige Monate nach Doras Schulentlassung und Konfirmation beginnt im August 1914 der Erste Weltkrieg. Ob sie in jenem Sommer noch bei ihren Eltern lebt oder bereits irgendwo als Magd oder Hausmädchen arbeitet, ist in der Familie nicht mehr bekannt. Gut möglich jedoch, dass es Dora in die Nähe von Huntlosen verschlagen hat, denn dort betreibt die Familie ihres künftigen Ehemannes Hermann Witte im Ortsteil Brook einen kleinen Bauernhof. Sehr wahrscheinlich kennen sich beide schon, als Hermann zur kaiserlichen Armee einrücken muss.

Kurz vor Kriegsende im November 1918 erleidet Hermann eine Schussverletzung, durch die seine rechte Hand zeitlebens gelähmt bleibt. Dennoch hat er damit mehr Glück als Millionen andere, die überhaupt nicht oder wesentlich stärker versehrt nach Hause zurückkehren. Dora heiratet ihn am 7. November 1919, Hermanns 22. Geburtstag. Fortan führen beide den Hof in Brook gemeinsam mit Hermanns Vater Hinrich Witte und Stiefmutter Katharine. Hermanns leibliche Mutter Sophie ist bereits 1905 verstorben, ebenso wie drei nicht über das Kindesalter hinausgekommene Geschwister.

Im April 1920 bringt Dora den gemeinsamen Sohn Heinrich zur Welt. Nach dem mörderischen Krieg und dem holprigen Start der ersten Demokratie auf deutschem Boden ist Heinrich sowohl für Dora als auch für Hermann eine Art Fixstern, der allerdings viel zu früh verlischt: Er stirbt am 10. April 1921 – seinem ersten Geburtstag – an einer Lungenentzündung. Noch Jahrzehnte später wird sich Dora im Familienkreis daran erinnern, wie sie ihn, gerade dem Krabbelalter entwachsen, mit einer Schöpfkelle in der Hand durchs Haus laufen sieht. Ohnehin bleibt Dora das für sie dramatisch begonnene Jahr 1921 auf ewig im Gedächtnis: Am 22. Januar hat sie Drillingskinder geboren, von denen nur eines lebensfähig ist. Auch diese auf den Namen Anneliese getaufte Tochter stirbt jedoch drei Tage darauf.

Mitten in den Wirren der Inflationszeit kommt im Juli 1922 als nächstes Kind Hermann Johann hinzu, gefolgt von Heinz (Juni 1924), Walter (Januar 1926), Erich (Dezember 1927) und Waltraud (September 1931). Als Waltraud geboren wird, hat die zwei Jahre zuvor in den USA ausgebrochene Weltwirtschaftskrise längst auch Deutschland erreicht. Die Zahl der Arbeitslosen steigt dramatisch, auch die seit 1923 schwelende Krise der Landwirtschaft verschärft sich noch einmal. Folge ist eine politische Radikalisierung: Zwei Wochen, bevor im Februar 1933 Doras Schwiegervater Hinrich Witte stirbt, ernennt Reichspräsident Paul von Hindenburg den NSDAP-Führer Adolf Hitler zum Kanzler. Noch einmal sechs Wochen später setzt das am 24. März 1933 vom Reichstag erlassene Ermächtigungsgesetz der Republik ein Ende.

Mag sich die wirtschaftliche Lage im nationalsozialistischen Deutschland zunächst auch besserninnenpolitisch beginnt schon im Frühjahr 1933 der Terror gegen Andersdenkende und Minderheiten, und nach den Olympischen Sommerspielen von Berlin im Sommer 1936 lassen die neuen Machthaber auch außenpolitisch ihre Maske fallen. Knapp sechs Monate nach dem Tod von Doras Stief-Schwiegermutter Katharine im September 1937 annektiert Deutschland Österreich, im Herbst 1938 verhindert dann nur das eilig geschlossene Münchner Abkommen einen Angriff auf die Tschechoslowakei. Allem Appeasement der Westmächte Großbritannien und Frankreich zum Trotz eröffnet am 1. September 1939 der Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg.

Was das für ihre ältesten Söhne bedeutet, kann sich Dora an zwei Fingern abzählen: Hermann Johann ist bei Kriegsbeginn 17 Jahre alt, Heinz 15. Tatsächlich erhalten beide schon kurz nach dem 18. Geburtstag einen Stellungsbefehl zur Wehrmacht. Hermann Johann kämpft nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 an der Ostfront, dort stirbt er im September 1942 schwer verwundet in einem Lazarett nahe Smolensk. Heinz wird im Herbst 1942 ebenfalls an die Ostfront abkommandiert. Seine Bitte, Weihnachten einige Tage bei den trauernden Eltern verbringen zu dürfen, lehnt ein Vorgesetzter zahlreich erhalten gebliebenen Feldpostbriefen zufolge mit den Worten ab, es handele sich bei dem gefallenen Familienmitglied „nur um einen Bruder“.

Dora bleibt in dieser Situation wenig anderes übrig, als in der täglichen Arbeit Halt zu suchen. Immerhin ist sie mit ihren Sorgen und Ängsten nicht allein: Zeitweise leben in den Kriegsjahren auch Mutter Anna – seit 1936 verwitwet – und Schwester Alma auf dem Hof in Brook. Letztere bangt nicht nur um ihre eingezogenen Söhne Heinrich und Martin, sondern auch um Ehemann Hermann Schwarting. Zu einigen der dem Hof zugewiesenen Erntekräfte aus Österreich hat Dora ebenfalls ein gutes Verhältnis, mit ihnen wird sie noch viele Jahre nach dem Krieg regelmäßig Briefe austauschen.

In der Schlussphase des Krieges kommen auch die jüngeren Söhne Walter und Erich noch zum Einsatz, beide kehren aber schon bald nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945 nach Hause zurück. Das Warten auf Heinz, der in russische Kriegsgefangenschaft geraten ist und in einem Bergwerk Zwangsarbeit leistet, entwickelt sich hingegen zu einer harten Geduldsprobe. Die am Ende nicht belohnt wird: Heinz stirbt, wie Dora erst eine ganze Weile nach dem tragischen Unglück erfährt, Im Juli 1948 beim Einsturz eines Stollens.

Eine niederschmetternde Nachricht, die Dora lange zu schaffen macht. Doch den dunklen Tagen folgen auch wieder hellere. Zum Beispiel der 17. Mai 1951: An diesem Tag heiratet Erich Witte Hanna Backhus aus Sandhatten. Auch der zweite verbliebene Sohn Walter und Tochter Waltraud heiraten in den nächsten Jahren, bald stellen sich die ersten Enkelkinder ein. Am Ende sind es elf, wobei mit Waltrauds Sohn Hans-Hermann lediglich ein Junge dabei ist. Eine Enkeltochter – Anke – stirbt im September 1957 noch im Säuglingsalter.

Anfang der 60er Jahre übergeben Dora und Hermann ihren Hof an Sohn Walter und Schwiegertochter Inge, bleiben aber dort wohnen. Das Mehr an Freizeit widmet Dora vor allem ihrem Garten, in den sie zu jeder Hochzeit ihrer Kinder eine Hortensie gepflanzt hat und den sie mit viel Liebe hegt und pflegt. Daneben unternimmt sie mit Hermann auch erste Bus-Urlaubsreisen, die beide bis nach Bayern und Baden-Württemberg führen.

Ihre Goldene Hochzeit feiern Dora und Hermann im November 1969 mit der Familie und vielen anderen Gästen im Gasthof Schmidt in Huntlosen. In den folgenden Jahren verschlimmert sich Doras Herzasthma, unter dem sie schon seit geraumer Zeit leidet, weiter – und kostet sie schließlich das Leben. Dora stirbt am 23. Mai 1979 nach einem akuten Anfall, wenige Monate vor ihrer Diamantenen Hochzeit. Beerdigt ist sie sechs Tage später auf dem Friedhof in Huntlosen.