Sophie Mathilde Wilkens – Biographie

Sophie Mathilde Wilkens wird am 30. Juli 1861 als zehntes Kind von Hinrich Tönjes und Anna Tönjes auf dem elterlichen Hof in Hurrel (heute: Ingo Stöver und Sara Bolte) geboren. Sie ist die jüngere Schwester von Johann Heinrich Tönjes, Johann Tönjes, Bernhard Tönjes, Meta Barkemeyer, Diedrich Tönjes, Hinrich Tönjes Junior, Hermann Tönjes, Anna Sophia Catharina Tönjes und Catharine Schwarting.

Im Frühjahr 1861 geht mit dem Angriff der Konföderierten auf Fort Sumter der Amerikanische Bürgerkrieg von einem schwelenden Konflikt in einen offenen Krieg über. Eine Woche vor Sophies Geburt kommt es dann am Bull Run zur ersten größeren Schlacht des Krieges, die die Konföderierten für sich entscheiden. US-Präsident Abraham Lincoln und die Generäle der Nordstaaten müssen erkennen, dass der abtrünnige und als hoffnungslos unterlegen angesehene Süden nicht innerhalb weniger Wochen zu besiegen sein wird.

Zwar produzieren die sich zuspitzenden Ereignisse im mehr als 6.000 Kilometer entfernten Nordamerika auch im damaligen Großherzogtum Oldenburg Schlagzeilen. Ob sie in Sophies Familie irgendjemand zur Kenntnis nimmt, darf jedoch mit Fug und Recht bezweifelt werden. Dort hat man ganz andere Sorgen, denn Sophie beginnt ihr Leben als Halbwaise: Vater Tönjes Hinrich ist am 2. März 1861 im Alter von 52 Jahren gestorben. Er ist nicht das einzige Mitglied der Familie, das Sophie nie zu Gesicht bekommt – auch die beiden älteren Geschwister Hermann und Anna Sophia Catharina sind schon lange tot.

Der Hof, den Sophies Mutter Anna 1846 von ihrem Vater Johann Hinrich Schütte übernommen hat und den sie nach dem Tod ihres Ehemannes zunächst allein weiterführt, umfasst rund 20 Hektar. Hilfe gibt es vor allem vom 1849 geborenen Sohn Tönjes Hinrich Jr. – aber auch Sophie und ihre fünf Jahre ältere Schwester Catharine sind von Beginn an in alle landwirtschaftlichen Arbeiten mit eingebunden. Nebenbei besucht Sophie die Volksschule in Lintel, wo neben Anna Adeline Wiedau, Bernhard Brockshus und Georg Hartmann unter anderem auch Vetter Heinrich Tönjes und ihr künftiger Ehemann Heinrich Wilkens zu den in etwa gleichaltrigen Mitschülern gehören.

Ein nachhaltig in Erinnerung gebliebenes Ereignis in Sophies Kindheit dürfte die Auswanderung ihrer Brüder Johann und Bernhard in die USA sein. Beide lassen sich in Chicago nieder, wobei das genaue Datum ihrer Abreise heute nicht mehr bekannt ist. Zumindest Johann muss aber relativ früh Abschied genommen haben, denn er wird laut einem Eintrag im Huder Kirchenbuch bereits im März 1873 Opfer einer in der aufstrebenden US-Metropole grassierenden Pocken-Epidemie. Auch zwei von Sophies Schulkameraden zieht es nach Nordamerika: Vetter Heinrich Tönjes wandert 1878 mit einem Zwischenstopp in Iowa nach Nebraska aus, Bernhard Brockshus 1880 mit den restlichen Mitgliedern der noch in Hurrel verbliebenen Familie ebenfalls nach Iowa.

Wann genau aus Sophie und Heinrich Wilkens ein Paar wird, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Heinrich plagt das gleiche Problem wie Sophie: Da es auf dem Wilkens-Hof (heute: Udo und Svetlana Wilkens) zwei – ab 1889 sogar drei – jüngere und damit in der Erbfolge bevorrechtigte Brüder gibt, hat er kaum Aussichten, dort jemals das Kommando zu übernehmen. Was ihm bleibt ist, zeitlebens als Knecht auf dem elterlichen oder einem fremden Hof zu arbeiten, einen gänzlich anderen Beruf zu ergreifen – oder dem Vorbild seiner Schulkameraden zu folgen und auszuwandern.

Das Jahr 1892 wird für Sophie in zweierlei Hinsicht zu einem Schicksalsjahr. Anfang Januar stirbt ihre Mutter, ohne ein Testament zu hinterlassen. Für die jahrelange unentgeltliche Mitarbeit auf dem elterlichen Hof bekommt Sophie im Zuge der Erbverständigung mit ihren Geschwistern zusätzlich zum regulären Erbteil einmalig 400 Goldmark zugesprochen. Am Ende kann sie so über 2.119 Goldmark verfügen – was nach heutigem Wert rund 13.000 Euro entspricht. Eine schöne Stange Geld. Warum nicht einen Teil davon in eine Schiffspassage nach Übersee investieren, die damals pro Person um die 100 Goldmark kostet?

Den letzten Anstoß gibt vermutlich die vorübergehende Heimkehr ihres Vetters Heinrich Tönjes im Herbst 1892. Er besucht noch einmal für einige Monate den mittlerweile von seinem Bruder Johann Friedrich Tönjes geführten elterlichen Hof (heute: Heiko Pflug) – und verlobt sich bei dieser Gelegenheit mit Heinrichs Schwester Anna Wilkens. Als beide im Frühjahr 1893 wieder abreisen, schließen sich Sophie und Heinrich an.

Nach der Ankunft in New York am 12. Mai 1893 geht es weiter nach Chicago, wo nach Angaben von Sophies Urenkelin Nancy Jensen am 17. Juni 1893 Hochzeit gefeiert wird. Ob Sophies 1892 nachweislich noch in Chicago lebender Bruder Bernhard bei der Trauung anwesend ist, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Es steht jedoch zu vermuten, so wie er den beiden Neuankömmlingen auch in den sich anschließenden Monaten der Eingewöhnung mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben dürfte.

Für Sophie, die fast 32 Jahre lang in Hurrel gelebt und in dieser Zeit keinerlei Großstadt-Berührung gehabt hat, muss Chicago eine Art Kulturschock sein. Lag die Stadt um 1850 herum mit rund 30.000 Einwohnern noch in etwa auf einem Niveau mit dem ihr vertrauten Oldenburg, so sind es 1893 bereits weit über eine Million Einwohner. Hinzu kommen zahlreiche Besucher der noch bis Ende Oktober laufenden Weltausstellung. Der Trubel auf den Straßen und den Bürgersteigen, das Rattern der im Jahr zuvor eingerichteten Hochbahn – das alles ist gewiss gewöhnungsbedürftig.

Ganz zu schweigen von den allgegenwärtigen Gefahren der Großstadt. Zwar ist die „Windy City“ noch nicht die „Hauptstadt des Verbrechens“, als die sie 35 Jahre später zu Zeiten Al Capones und teilweise auch heute wieder gilt. Gleichwohl treibt mit Henry Howard Holmes just in jener Zeit einer der berüchtigtsten Serienmörder der USA in Chicago sein Unwesen. Und die Arbeits- und Lebensbedingungen rund um den weltgrößten Schlachthof Union Stock Yards im Stadtteil New City sind mit einiger Sicherheit schon vor der Jahrhundertwende so atemberaubend schlecht, wie sie der Schriftsteller Upton Sinclair 1906 in seinem Roman „Der Dschungel“ beschreiben wird.

Doch Chicago hat 1893 auch eine andere Seite, eine deutsche. Fast jeder dritte Einwohner stammt aus Deutschland. Es gibt zahlreiche Vereine und Organisationen, die deutsche Traditionen pflegen und ihren Mitgliedern neben Geselligkeit auch Hilfe in beruflichen und finanziellen Notlagen bieten. An diese damals sehr lebendige Szene finden Sophie und Heinrich vermutlich schnell Anschluss.

Die erste Adresse des frisch getrauten Paares lautet 444 Armitage, dort kommt am 30. August 1894 Sohn Heinrich Bernhard zur Welt. Heinrich arbeitet in dieser Zeit Aufzeichnungen aus der Familie seiner Schwester Catharine Grummer zufolge bei der Chicagoer Straßenbahn. Wo die weiteren Kinder Adele (Oktober 1896), Carl (März 1898) und Herbert (April 1903) geboren sind, ist nicht überliefert – zu einem späteren Zeitpunkt wohnt die Familie in einem Haus an der Cortland Street.

Zwischen der Geburt der beiden jüngsten Söhne macht sich Heinrich mit einem Fleischhandel selbstständig – ein Geschäft, das offenbar von Beginn an sehr einträglich ist. Der Wohlstand wächst, abzulesen an zwischen 1903 und 1914 entstandenen Fotos jener Jahre: Automobil statt Pferdegespann und noch einmal ein größeres Haus, dieses Mal an der Fairfield Avenue. Dort erlebt Sophie den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914, der sie sicher so manches Mal an die in Deutschland zurückgebliebenen Geschwister und deren Kinder denken lässt, die nun wie Heinrich Tönjes, Georg Barkemeyer oder Gerhard und Gustav Schwarting an die Front abrücken müssen.

Den Kriegseintritt der USA im April 1917 erlebt Sophie nicht mehr mit: Sie stirbt am 4. September 1916 nach längerer Krankheit im Alter von nur 55 Jahren. Beerdigt ist sie wenige Tage später auf dem Eden Cemetery im Chicagoer Vorort Schiller Park.