Reinhard Braun – Biographie

Reinhard Braun wird am 28. Oktober 1878 im Kreis Schlawe in Hinterpommern geboren. Er ist der ältere Bruder von Emil Braun, Otto Braun, Eduard Braun und Elna Müller.

Das Jahr 1878 gilt als ein Wendepunkt in der Geschichte des modernen politischen Anarchismus. Beschäftigen sich frühe Vertreter dieser am Ende des 18. Jahrhunderts wieder auflebenden Denkrichtung wie der französische Wirtschaftswissenschaftler Pierre-Joseph Proudhon („Eigentum ist Diebstahl“) vornehmlich theoretisch mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen, rückt nun die von seinem Landsmann Paul Brousse geprägte Parole der „Propaganda der Tat“ in den Vordergrund. Aktionen mit „Vorbildcharakter“ sollen die Gesellschaft „aufwecken“ und die gewünschten politischen und sozialen Veränderungen herbeiführen. Das schließt ausdrücklich Gewalt ein, so dass Attentate auf Vertreter von Staat, Kirche und Bürgertum in den folgenden Jahren deutlich zunehmen.

Deutschlands Kaiser Wilhelm I. bekommt es mit diesem Strategiewandel 1878 innerhalb von nur drei Wochen gleich zweimal zu tun. Das erste Mal mit glimpflichem Ausgang: Die beiden Revolverschüsse, die der Leipziger Klempnergeselle Max Hödel am 11. Mai 1878 auf ihn abgibt, verfehlen ihr Ziel. Beim zweiten, durch Karl Eduard Nobiling am 2. Juni mit einer Schrotflinte verübten Attentat wird der 81-jährige Regent jedoch schwer verletzt, er muss sich danach in fast sämtlichen Amtsgeschäften mehrere Monate lang von seinem Sohn Friedrich III. vertreten lassen.

Die Ereignisse lassen auch Reichskanzler Otto von Bismarck1866 und 1874 bereits selbst im Visier eines Pistolenschützen – um sein Leben fürchten. Das ist der Überlieferung zufolge einer der Gründe, warum er gleich nach dem ersten Kaiser-Attentat rigorose Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie fordert, deren Führer das Land gemäß den Ideen von Karl Marx und Friedrich Engels von der „Knechtschaft des Kapitalismus“ befreien wollen. Der andere Grund ist natürlich, dass Bismarck die im Reichstag vertretene Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands als politische Konkurrenz sieht, die es mit allen Mitteln zu schwächen gilt.

Nachdem das im Mai 1878 erstmals eingebrachte „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ zunächst scheitert, stimmt der Reichstag schließlich am 19. Oktober einer unter dem Eindruck des zweiten Attentats nochmals verschärften Version zu. Nach der Zustimmung des Bundesrats und der Unterschrift von Wilhelm I. sind im Deutschen Reich ab dem 22. Oktober 1878 sämtliche „den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung bezweckende“ Vereine, Versammlungen und Schriften verboten. Dies betrifft unter anderem auch die sozialdemokratische Parteizeitung „Vorwärts“, die ihr Erscheinen am 26. Oktober 1878 einstellt.

Ob in Reinhards näherem Umfeld irgendjemand von diesem mehr als elf Jahre lang geltenden Verbot betroffen ist, liegt angesichts fehlender Überlieferung im Dunkeln. Auch sonst sind heute nur noch sehr wenige Fakten aus seiner Jugend bekannt – gesicherte Spuren findet sich erst 32 Jahre später im 20 Kilometer nördlich der Stadt Schlawe gelegenen Bauerndorf Marsow. Dort heiratet Reinhard am 20. April 1911 Emma Steckmann, deren Eltern in dem 350-Seelen-Ort eine kleine Landwirtschaft betreiben. In den folgenden 17 Jahren kommen mit Hildegard, Erna, Willi, Artur, Kurt, Elfriede und Helmut insgesamt sieben Kinder zur Welt, die alle die direkt gegenüber dem Braun-Hof gelegene Dorfschule besuchen.

Kurz nach der Geburt der zweiten Tochter Erna bricht der Erste Weltkrieg aus, an dem Reinhard als Soldat teilnimmt. Aus dieser Zeit stammt die später von ihm des Öfteren erzählte Anekdote, dass er eines Tages mit seiner Einheit im gleichen Zug gefahren sei wie der oberste deutsche Heerführer Paul von Hindenburg und dass Hindenburg ihn bei einer kurzen Begegnung während dieser Fahrt mit den Worten „Mein Sohn“ angesprochen habe.

In den 20er und 30er Jahren widmet sich Reinhard ganz dem Ausbau des eigenen Hofes, den er bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs mit einer Nutzfläche von etwas mehr als 30 Hektar zu einem der größten Höfe des Dorfes macht. Mit Willi und Artur stehen zu seinem 60. Geburtstag gleich zwei zu Landwirten ausgebildete Söhne bereit, die einige Jahre später an seine Stelle treten könnten. Doch es kommt anders. Willi fällt bereits kurz nach Kriegsausbruch, und für Artur wie auch für alle anderen Mitglieder der Familie Braun gibt es nach 1945 in Hinterpommern keine Zukunft mehr.

Das Drama der Vertreibung beginnt am 30. März 1945, als russische Truppen Marsow einnehmen und die Bewohner zwingen, ins 20 Kilometer entfernte Alt Schlawe zu ziehen. Dort wohnt Reinhards Familie mit weiteren Flüchtlingen in einem leer stehenden Haus. Ehefrau Emma, die bereits krank und geschwächt ankommt, erlebt das Ende des Krieges nicht mehr, sie stirbt am 1. Mai. Eine Woche später kehrt die Familie mit einem notdürftig zusammengezimmerten Sarg im Gepäck nach Marsow zurück und lässt sich nach der Beerdigung wieder auf dem geplünderten und zu großen Teilen abgebrannten Hof nieder – zunächst ohne jede Nachricht von den bis zur bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht angehörenden Söhnen Artur und Helmut.

Am 14. Dezember 1945 nimmt dann, mittlerweile unter polnischer Besatzung, der nächste Akt des Dramas seinen Lauf. Um die Mittagszeit gehen polnische Milizionäre von Tür zu Tür und fordern die Bewohner auf, innerhalb von zehn Minuten ihre Häuser zu räumen. Reinhard wird mit seinen Kindern Hildegard, Erna, Kurt und Elfriede und weiteren Familienmitgliedern auf Pferdewagen zum Bahnhof von Schlawe transportiert und dort in einen Viehwaggon verfrachtet. Nach dreitägiger Fahrt ohne Essen, Wasser und Heizung, in deren Verlauf zahlreiche Insassen an Typhus sterben, überqueren die Vertriebenen schließlich die neugeschaffene Oder-Neiße-Grenze und finden am darauffolgenden Tag im vorpommerschen Stoltenhagen eine dauerhafte Bleibe.

Für Reinhard ist in Stoltenhagen gleichwohl noch nicht Endstation. Nachdem der Kontakt zu seinen in Westdeutschland gestrandeten Söhnen Artur und Helmut wiederhergestellt ist, beschließt er im Herbst 1947, den beiden anlässlich Arturs Hochzeit mit Wilma Lange in Hurrel einen Besuch abzustatten. Begleitet von seinem dritten Sohn Kurt macht er sich auf den Weg durch den damals noch offenen Eisernen Vorhang – und lässt sich von Artur überzeugen, nicht wieder in den Osten zurückzukehren. Eine Entscheidung, die er angesichts der weiteren innerdeutschen Entwicklung kaum bereut haben dürfte.

Die letzten 22 Jahre seines Lebens verbringt Reinhard auf dem Lange-Hof in Hurrel, wo er sich recht schnell mit Arturs Schwiegervater Georg Lange anfreundet. Erfüllung findet er darüber hinaus in seinem durch keinen Schicksalsschlag zu erschütternden evangelischen Glauben, der ihn auch im hohen Alter noch fast jeden Sonntag mit dem Fahrrad zum Gottesdienst nach Hude fahren lässt. Nachdem er sich von einem im Alter von 88 Jahren bei einem Sturz erlittenen Oberschenkelhalsbruch zunächst noch einmal wieder erholt, verlassen ihn allerdings nach dem im Kreis der Familie gefeierten 90. Geburtstag die Kräfte: Er stirbt am 16. Februar 1970 und wird vier Tage später auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude beigesetzt.