Persönliche Erinnerungen an Wilhelm Fenske

… von Manfred Birth

Aufgezeichnet im Oktober 2016

Wilhelm Fenske war mein Großvater. Zum ersten Mal bewusst gesehen habe ich ihn auf dem Bahnhof in Hude, wo ich im Frühjahr 1948 als Vierjähriger zusammen mit meiner Mutter und meiner Großmutter nach einer monatelangen Odyssee durch mehrere Aufnahmelager und der Flucht über die innerdeutsche Grenze angekommen bin (siehe Erinnerungen an Grete Birth). Natürlich habe ich mich wie die anderen drei riesig gefreut, wobei mir ein eigentlich völlig unwichtiges Detail besonders im Gedächtnis geblieben ist: Er hatte kaum noch Haare auf dem Kopf. Später habe ich ihm mit einer Haarschneidemaschine die restlichen Haare abgeschnitten.

Mein Großvater war ein ruhiger und bedächtiger Mann. Obwohl er in der Ukraine sehr bescheiden aufgewachsen ist, hatte er ein umfangreiches Allgemeinwissen. Als ich den Konfirmandenunterricht besuchte, konnte er mir viele Verse aus der Bibel und dem Gesangbuch auswendig aufsagen. Er war zwar nicht sonderlich religiös, aber eben sehr pragmatisch, und er hatte für alles eine Lösung.

Als Baracken-Bewohner hatten viele Vertriebene im Ort keine hohe Anerkennung. Mein Großvater allerdings wurde von den Nachbarn akzeptiert. Viele beeindruckte, dass er als ehemals eigenständiger Bauer mit allen landwirtschaftlichen Arbeiten sehr vertraut war. Deshalb erlaubte ihm zum Beispiel unser Nachbar Georg Wieting, seine landwirtschaftlichen Geräte und die Pferde zur Bewirtschaftung unseres aus Heideland bestehenden Grundstücks zu nutzen. Auf dem urbar gemachten Boden pflanzten wir alles, was wir zum Leben benötigten: verschiedene Gemüsesorten, Kartoffeln und sogar Roggen, der für uns in einer nahe gelegenen Mühle gemahlen wurde.

Mein Großvater baute später einen kleinen Stall aus Ziegelsteinen, in dem wir im Winter zwei und im Sommer drei Schweine fütterten. Ein Schwein wurde im Winter geschlachtet und daraus Fleisch und Wurst hergestellt, so dass wir ausreichend und auch gut zu essen hatten. Die anderen Schweine wurden verkauft, wodurch wir unsere finanzielle Situation etwas aufbesserten. Daneben hatten wir Hühner, die wir selber züchteten und Enten oder Gänse, die ich meistens hüten musste, was äußerst langweilig war.

In der Nähe unserer Baracke hatte die Gemeinde einen Feuerlöschteich eingerichtet. Als Kinder sind wir oft dorthin gelaufen, um Frösche oder Goldfische zu fangen. Meine Mutter hatte große Angst, dass wir dort hineinfallen und ertrinken könnten, daher lernte ich schon sehr früh Schwimmen. Mein Großvater nahm eine lange Holzstange, an der ein dickes Tau befestigt war. Das andere Ende des Taus wurde bei mir um den Bauch gebunden und so lernte ich schwimmen. Es war mehr ein Hundepaddeln; aber ich konnte mich gut über Wasser halten. Als ich das erste Mal in der Mittelschule Schwimmunterricht hatte, staunten meine Mitschüler und mein Lehrer, dass ich schon schwimmen konnte, auch wenn es ein nicht sonderlich üblicher Schwimm-Stil war.

Um etwas Geld zu verdienen, übernahm unsere Familie oft die Pflege eines Rübenfeldes vom Nachbarn Gerhard Pflug. Mein Großvater, meine Großmutter und meine Mutter setzten die Rübenpflanzen, jäteten das Unkraut und halfen bei der Ernte. Ich war auch auf dem Feld und hatte meine Freude daran, Schmetterlinge, Käfer und sonstige Insekten zu beobachten und mit ihnen zu spielen. Im Herbst halfen meine Mutter und mein Großvater den umliegenden Bauern bei der Ernte und im Winter beim Dreschen des Kornes. Im Sommer wurde das Korn gemäht und zu Garben gebunden. Ich durfte sehr oft auf der Mähmaschine die Pferde führen, damit sie in der Spur blieben. Mähdrescher gab es kaum.

Mein Großvater hatte auch zwei Leidenschaften. Bei den Schützenfesten in Hurrel oder sonstigen Feiern trank er gerne mal ein Bier und einen Schnaps. Das brachte ihm immer viel Ärger mit meiner Großmutter ein, die kein Verständnis für das Trinken von Alkohol hatte. Der Haussegen hing dann schief.

Die andere Leidenschaft war das Rauchen. Er pflanzte Tabak an und erntete die reifen Blätter, die getrocknet wurden. Als Kind durfte ich mit einer speziellen Tabakmaschine die Blätter zu Tabak zerkleinern. Mein Großvater tat den Tabak in einen Beutel, den er ständig bei sich trug. Zum Einwickeln des Tabaks nutzte er die Nordwest-Zeitung, indem er aus ihren Seiten quadratische Papierstücke von der Größe 10 mal 10 Zentimeter anfertigte. Diese Papierstücke hatte er ebenfalls ständig bei sich, um seine Zigaretten selber zu drehen. Zigarettenpapier gab es damals nicht bei uns. Gelegentlich rauchte mein Großvater auch Pfeife. Er rauchte sehr viel.

Er war ein sehr gutmütiger Mensch. Wenn ich von Mutter oder Großmutter mal ausgeschimpft wurde oder eine Backpfeife erhielt, tröstete er mich oft. Ich habe ihn sehr geliebt.

Er war fleißig, hilfsbereit und ständig mit irgendwelchen Arbeiten beschäftigt. Im Sommer 1959 half er meiner Tante Irmgard und ihrer Familie, das Haus in Beiseförth zu bauen, wohin er dann 1960 mit meiner Großmutter gezogen ist. Auch dort war er unermüdlich in einer Baustoffhandlung tätig.

Leider erkrankte er 1963 an Lungenkrebs, was sicher eine Folge des vielen Rauchens war. Ich bin 14 Tage vor seinem Tod im Urlaub zu ihm gefahren, als er schon im Koma lag. Ich habe viele Stunden an seinem Bett gesessen und ihn gestreichelt. Ob er davon etwas gemerkt hat, weiß ich nicht. Kurz vor seinem Tod habe ich ihn noch mit meinem Elektrorasierer rasiert. Dabei spürte ich noch einige Regungen von ihm. Am 15.März 1963 ist er dann eingeschlafen und auf dem Friedhof in Beiseförth beerdigt worden.