Martha Tönjes – Biographie

Martha Sophie Tönjes wird am 22. Dezember 1909 als sechstes Kind von Hermann Wübbeler und Dorothee Wübbeler in Kirchkimmen geboren. Sie ist die jüngere Schwester von Wilhelm Wübbeler, Hermann Wübbeler, Karl Wübbeler, Dorothee Vosteen und Sophie Linz und die ältere Schwester von Helene Windeler und Ernst Wübbeler.

Am Tag von Marthas Geburt wird in der Liebfrauenkirche zu Laeken Belgiens König Leopold II. zu Grabe getragen. Der 74-jährige Monarch, der das Land insgesamt 44 Jahre lang regiert hat, ist am 17. Dezember 1909 auf Schloss Laeken verstorben. Da Leopolds einziger ehelicher Sohn Leopold Ferdinand bereits 1869 im Alter von neun Jahren einer Lungenentzündung erlegen ist, folgt ihm mit Albert I. ein Sohn seines jüngeren Bruders Philippe auf den Thron. Albert wiederum profitiert davon, dass sein älteren Bruder Baudouin 1891 ebenfalls eine Lungenentzündung das Leben gekostet hat. Zwei weitere, 1906 und 1907 unehelich geborene Söhne Leopolds gelten nicht als erbberechtigt, obwohl er ihre Mutter Blanche Delacroix noch wenige Tage vor seinem Tod heiratet.

Schon zu Lebzeiten ist die öffentliche Meinung Leopold gegenüber äußerst kontrovers. Vom Volk anfangs durchaus geachtet, macht der König in der Folge vor allem durch die rücksichtslose Ausbeutung des von ihm in privater Initiative begründeten Kongo-Freistaats von sich reden. Zwischen 1888 und 1908 – dem Jahr der Übernahme der in Zentralafrika gelegenen Kolonie durch den belgischen Staat – kommen dort seriösen Schätzungen zufolge mehr als zehn Millionen Einheimische gewaltsam ums Leben. Angesichts der als Kongo-Gräuel in die Geschichte eingegangenen Verbrechen wahren auch die Mitglieder anderer europäischer Herrscherhäuser nach der Jahrhundertwende zunehmend Distanz zu Leopold.

Um sich vom umstrittenen Vorgänger abzugrenzen, agiert Albert betont bescheiden und volksnah. So leistet er beispielsweise als erster belgischer König seine zum Amtsantritt am 23. Dezember 1909 gesprochene Eidesformel nicht nur in Französisch, sondern auch in Flämisch. Außenpolitisch versucht Albert sowohl zum Deutschen Reich als auch zu dessen verfeindetem Nachbarn Frankreich gute Beziehungen zu unterhalten – ein Balanceakt, der freilich mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 an seine Grenzen stößt. Als die deutsche Militärführung freien Durchmarsch durch das neutrale Belgien fordert, lehnt Albert ab und stellt sich nach der deutschen Invasion auf die Seite der Alliierten. Belgien wird daraufhin im Herbst 1914 zu einem der Haupt-Kriegsschauplätze: Allein die von Mitte Oktober bis Mitte November geführte Erste Flandernschlacht fordert mehr als 100.000 Tote. Anschließend erstarrt die Front im Grabenkrieg.

Wie Marthas Familie die ersten Kriegsmonate an der Heimatfront erlebt, darüber lässt sich mehr als 100 Jahre später nur spekulieren. Vater Hermann, damals 44 Jahre alt, bleibt aber sehr wahrscheinlich von einer Einberufung zur kaiserlichen Armee verschont, dasselbe gilt für Marthas nach 1900 geborene Brüder. Wo sie selbst in jenen schicksalhaften Jahren aufwächst und wo sie die Schule besucht, liegt heute im Dunkeln. Ihre aus der Nähe von Goldenstedt stammenden Eltern sind Heuerleute und wechseln zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehrfach den Wohnort. Durch Erzählungen überliefert ist, dass während des Krieges nicht alle Familienmitglieder in einem Haushalt leben und dass Martha während ihrer Kirchkimmer Zeit Kontakt zu den Familien von Karl Bernhard Fortmann und Johann Diedrich Rüdebusch hat. Gut möglich deshalb, dass ihre Eltern und später auch sie auf deren Höfen am Steinkimmer Weg und an der Kirchkimmer Straße arbeiten.

Sowohl vom Fortmann- als auch vom Rüdebusch-Hof führt eine Verbindung zum Hurreler Großbauern Heinrich Tönjes: Dessen Schwester ist seit 1920 mit Karl Bernhard Fortmann verheiratet, und er selbst heiratet im Juni 1922 Johann Diedrich Rüdebuschs Tochter Bertha. Fast auf den Monat genau zehn Jahre später, im Mai 1932, beginnt Martha auf Heinrichs Hof (heute: Ingo Stöver und Sara Bolte) ihren Dienst als landwirtschaftliche Gehilfin – und trifft ganz in der Nähe auf eine weitere Bekannte aus Kirchkimmen: Berthas Schwester Anna Mathilde, Ehefrau von Heinrichs Nachbar Heinrich Ahrens.

In der Zwischenzeit, also zwischen Marthas 12. und 22. Geburtstag, ist in der auf den Trümmern des Kaiserreichs errichteten Weimarer Republik viel passiert: Rheinland-Besetzung, Hyperinflation, Hitler-Ludendorff-Putsch, Einführung der Rentenmark, Wechsel im Amt des Reichspräsidenten von Friedrich Ebert zu Paul von Hindenburg, ein Friedensnobelpreis für Außenminister Gustav Stresemann, die im Herbst 1929 ausbrechende Weltwirtschaftskrise und schließlich der dadurch bedingte Aufstieg der von Adolf Hitler angeführten Nationalsozialisten. Nur wenige Wochen nach Marthas Dienstantritt in Hurrel gewinnt die NSDAP die Oldenburger Landtagswahl, noch einmal acht Monate später sitzt die Partei durch Hitlers Ernennung zum Reichskanzler auch in Berlin an den Schalthebeln der Macht. Das kurz darauf vom Reichstag beschlossene Ermächtigungsgesetz macht der Demokratie den Garaus und nach Hindenburgs Tod im August 1934 übernimmt Hitler – abgesegnet durch eine längst bedeutungslos gewordene Volksabstimmung – auch dessen Amt.

Im Sommer 1934 ist Martha in Hurrel vermutlich bereits mit Heino Stöver liiert, einem weiteren Gehilfen auf dem Tönjes-Hof. Heinos Eltern Friedrich und Marie Stöver bewirtschaften im Dorf einen Pachthof (heute: Ursula Schlake), auf dem mehrere seiner jüngeren Geschwister mitarbeiten. Vermutlich ist zu jenem Zeitpunkt aber bereits absehbar, dass der Eigentümer Diedrich Heinemann den Hof nach Auslaufen der Pachtzeit wieder selbst führen will. Deshalb sieht sich Friedrich Stöver nach Alternativen um und wird im damals noch sehr dörflich geprägten Oldenburger Stadtteil Kreyenbrück fündig.

Martha und Heino, der als einziges Mitglied seiner Familie in Hurrel bleibt, heiraten am 9. August 1935. Fortan wohnen beide in einem jener Heuerhäuser, die zum Tönjes-Hof gehören, und betreiben neben der Arbeit für ihren Dienstherrn auch selbst etwas Landwirtschaft. Im November 1935 bringt Martha Sohn Willy zur Welt, gefolgt von den Töchtern Luise (April 1937) und Frieda (September 1938). Zwölf Monate später – Martha ist gerade zum vierten Mal schwanger – beginnt mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Heino wird daraufhin zur Wehrmacht eingezogen, so dass Martha nach der Geburt des zweiten Sohnes Fritz im Januar 1940 zunächst einmal mit vier kleinen Kindern alleine dasteht. Hilfe bekommt sie in dieser Zeit unter anderem von ihren Eltern: Hermann und Dorothee Wübbeler fahren in jenen Jahren viel mit dem Fahrrad umher, um die an unterschiedlichen Orten wohnenden, sich in ganz ähnlicher Situation wie Martha befindenden Töchter und Schwiegertöchter zu unterstützen.

Im Mai 1941, vier Wochen vor dem Überfall auf die Sowjetunion, macht Tochter Erika die Familie komplett. Danach kommt Heino, der seine militärische Grundausbildung relativ heimatnah in Verden absolviert hat, immer seltener nach Hause. Irgendwann in der Schlussphase des Krieges reißt dann die Verbindung ganz ab. Da es aus seinem letzten Einsatzgebiet in Kurland zunächst keine offizielle Todesmitteilung gibt, klammert Martha sich vermutlich das ganze Jahr 1945 hindurch an die Hoffnung, dass Heino – wie in manch anderen Fällen geschehen – eines Tages plötzlich vor der Tür steht oder dass zumindest eine Nachricht von ihm eintrifft. Doch nichts dergleichen geschieht. Eine Woche vor ihrem 36. Geburtstag folgt stattdessen im Dezember 1945 der nächste Schicksalsschlag: Mutter Dorothee, wieder einmal mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Hurrel, erleidet unterwegs einen Schwächeanfall und stirbt noch an Ort und Stelle.

Zeit, ihre wenig komfortable Lage als Witwe mit fünf Kindern zu beklagen, hat Martha um den Jahreswechsel 1945/46 herum kaum. Zumal das Leben um sie herum weitergeht und ihr täglich vor Augen führt, dass es auch andere Menschen hart getroffen hat. Etwa die auf dem Tönjes-Hof gestrandete Flüchtlingsfrau Erna Büttner, die mit ebenfalls fünf Kindern ihre Heimat im Osten Deutschlands verlassen musste und auf die Rückkehr ihres in Gefangenschaft geratenen Ehemannes Paul wartet. Oder Schwiegermutter Marie, die mit Werner Stöver noch einen weiteren vermissten und mutmaßlich umgekommenen Sohn betrauert. Oder, oder, oder – die Liste ließe sich beliebig lang fortführen, denn der Krieg hat in nahezu jeder Familie Spuren hinterlassen.

Nach dem Tod von Mutter Dorothee wohnt Vater Hermann Wübbeler mit in dem kleinen Heuerhaus und beteiligt sich wie Martha und alle anderen Bewohner nach Kräften am Wiederaufbau des noch in den letzten Kriegswochen durch einen Tiefflieger-Angriff in Mitleidenschaft gezogenen Tönjes-Hofes. Er stirbt im Juli 1948, wenige Wochen nach der erfolgreich durchgeführten Währungsreform. Zu diesem Zeitpunkt ist Bertha Tönjes bereits an Krebs erkrankt, sie stirbt im September des darauffolgenden Jahres. Kurz darauf zieht Martha mit den Kindern ins Haupthaus, während Familie Büttner das hintere Heuerhaus in Beschlag nimmt. Zusammen mit Sophie Tönjes, der 85-jährigen Mutter von Hofeigentümer Heinrich Tönjes, kümmert Martha sich fortan neben ihren anderen Aufgaben vornehmlich um den Haushalt.

Wann genau in dieser Konstellation aus Martha und Heinrich ein Paar wird, ist nicht überliefert. Beide heiraten am 16. Dezember 1957, knapp zwei Jahre nach dem Tod von Sophie Tönjes. Da aus Heinrichs Ehe mit Bertha keine Kinder hervorgegangen sind, bestimmt er Marthas ältesten Sohn Willy – damals 22 Jahre alt – zum Nachfolger. Die anderen Kinder verlassen nach und nach den Hof, als letztes Fritz nach seiner Heirat mit Annegret Meyer aus Stenum im Juli 1965. Willy wiederum hat im April 1965 Inge Kreienkamp aus Stollhammerwisch geheiratet, die erste gemeinsame Tochter Maike kommt nur eine Woche nach Fritz‘ Hochzeitsfeier zur Welt.

Neben Maike sieht Martha mit Anne (April 1967) und Ingo (April 1969) zwei weitere ihrer insgesamt 15 Enkelkinder im eigenen Haushalt aufwachsen. Knapp drei Monate nach ihrem 68. Geburtstag und der im kleinen Kreis gefeierten Porzellanhochzeit stirbt Ehemann Heinrich im Alter von 84 Jahren. Obwohl mittlerweile selbst in einem Alter angekommen, in dem sie sich guten Gewissens hätte etwas zurücklehnen können, arbeitet Martha in den folgenden Jahren weiter unermüdlich auf dem inzwischen von Willy und Inge geführten Hof mit. Quasi bis zum letzten Atemzug: Während sie mit der Familie zusammen Heiligabend 1983 das Vieh versorgt, erliegt sie urplötzlich einem Herzschlag. Beerdigt ist Martha fünf Tage später auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude.