Heinrich Wilkens – Biographie

Johann Heinrich Wilkens – Rufname Heinrich – wird am 13. April 1862 als erstes Kind von Tönjes Hinrich Wilkens und Gesche Margarete Wilkens auf dem elterlichen Hof in Hurrel (heute: Udo und Svetlana Wilkens) geboren. Er ist der ältere Bruder von Catharine Grummer und hat mit Anna Tönjes, Gesine Schweers, Bernhard Wilkens, Hinrich Wilkens und Friedrich Wilkens fünf jüngere Halbgeschwister aus der dritten Ehe seines Vaters mit Gesine Stolle. Der ältere Halbbruder Heinrich Wilkens aus Tönjes Hinrichs erster Ehe mit Metta Margareta Voigt ist bei Johann Heinrichs Geburt bereits verstorben.

Am Tag nach Heinrichs Geburt jährt sich zum ersten Mal jener Tag, an dem im Amerikanischen Bürgerkrieg die ersten Opfer zu beklagen sind. Am 12. April 1861 hatten konföderierte Truppen das zuvor monatelang belagerte, in der Bucht von Charleston liegende Fort Sumter mit Mörsern und Artilleriegeschützen angegriffen. Am Folgetag ergibt sich die Besatzung des Forts nach 34-stündigem Dauerbeschuss, weil ein Brand außer Kontrolle gerät und auf das Pulvermagazin überzugreifen droht. Menschen kommen bis dahin nicht ernstlich zu Schaden. Erst während eines Salutschießens im Vorfeld der Fort-Übergabe am 14. April feuert eine Kanone zu früh und tötet den Soldaten Daniel Hough. Sein Kamerad Edward Galloway wird schwer verwundet und stirbt fünf Tage später.

Ein Jahr nach diesem Vorfall geht die Zahl der Toten bereits in die Zehntausende. Allein die bis dahin verlustreichste Schlacht des Krieges, die zweitägige Schlacht von Shiloh am 6. und 7. April 1862, kostet fast 3.500 Teilnehmer das Leben. Etwa 20.000 weitere werden verletzt, vermisst oder gefangengenommen. Die vielen Gefangenen auf beiden Seiten entwickeln sich zunehmend zum Problem – die Nordstaaten versuchen es unter anderem dadurch zu lösen, indem sie im Süden Chicagos ein riesiges Lager errichten. Camp Douglas ist seit Februar 1862 in Betrieb und gilt heute neben Andersonville in Georgia als eines der berüchtigtsten Kriegsgefangenenlager dieses mörderischen Konflikts. Der Titel einer 2006 produzierten TV-Dokumentation über die in Camp Douglas herrschenden Zustände lautet passenderweise „80 Acres of Hell“.

Dass Heinrich einen großen Teil seines Lebens in Chicago verbringen wird, lässt sich in seiner Kindheit und frühen Jugend noch nicht absehen. Ganz im Gegenteil: Eine Zeitlang sieht es – vor traurigem Hintergrund – so aus, als ob er einmal den elterlichen Hof erben würde. Denn sieben Jahre nach der Geburt seiner Schwester Catharine stirbt im Mai 1872 Mutter Gesche Margarete. Vater Tönjes Hinrich heiratet zwar nur neun Monate später erneut, doch bis zur Geburt eines weiteren, laut Jüngstenrecht in der Gemeinde Hude in der Erbfolge bevorzugten Sohnes vergehen noch einmal mehr als vier Jahre. Zu diesem Zeitpunkt ist Heinrich 15 und hat die Volksschule im Nachbardorf Lintel bereits abgeschlossen.

Obwohl keine oder nur geringe Aussicht auf eine spätere Übernahme besteht, arbeitet Heinrich nach der Schulentlassung – lediglich unterbrochen von seiner zweijährigen Militärdienstzeit – noch fast 15 Jahre lang auf dem elterlichen Hof mit. In ganz ähnlicher Lage befindet sich zwei Kilometer entfernt seine neun Monate ältere Schulkameradin und spätere Ehefrau Sophie Tönjes: An ihr als jüngster Tochter bleibt nach dem frühen Tod des Vaters ein großer Teil der auf dem elterlichen Hof (heute: Ingo Stöver und Sara Bolte) anfallenden Arbeit hängen, erbberechtigt ist allerdings ihr älterer Bruder Tönjes Hinrich.

Wie oft Heinrich und Sophie, als sie ein Paar geworden sind, über die Perspektiven einer gemeinsamen Zukunft sinnieren, lässt sich nur erahnen. Der letzte Anstoß, Deutschland zu verlassen, erfolgt von außen. Im Herbst 1992 besucht Sophies ebenfalls aus Hurrel stammender, bereits 1878 nach Nebraska ausgewanderter Vetter Heinrich Tönjes noch einmal den Hof seiner Eltern (heute: Heiko Pflug) – und verlobt sich in dieser Zeit mit Heinrichs Halbschwester Anna. Als beide einige Monate später die Reise ohne Wiederkehr nach Übersee antreten, steht für Heinrich und Sophie fest: Wir kommen mit!

Am 12. Mai 1893 erreichen Heinrich und Sophie New York und wenig später Chicago, wo Sophies Bruder Bernhard lebt. Dort heiraten sie den Angaben von Heinrichs Urenkelin Nancy Jensen zufolge am 17. Juni 1893.

Über den beruflichen Start in der neuen Heimat gibt es unterschiedliche Überlieferungen. Laut Nancy Jensen lautet Heinrichs Berufsbezeichnung auf der Passagierliste des Auswandererschiffs Metzger – was nach seiner Ankunft für eine Tätigkeit im Umfeld der weltbekannten Schlachthöfe von Chicago sprechen würde. Aufzeichnungen aus der Familie von Heinrichs Schwester Catharine Grummer zufolge verbringt Heinrich jedoch zunächst einige Monate bei Halbschwester Anna in Nebraska und nimmt dann in Chicago einen Posten bei der Straßenbahn an. Wie auch immer – belegt ist, dass Heinrich und Sophie in den folgenden Jahren vier Kinder bekommen: Heinrich Bernhard (August 1894), Adele (Oktober 1896), Carl (März 1898) und Herbert (April 1903).

Im Jahr 1900 verliert Heinrich den Aufzeichnungen aus der Familie Grummer zufolge seinen Posten bei der Straßenbahn und erhält dafür eine Abfindung. Dieses Geld versetzt ihn in die Lage, eine eigene Firma zu gründen. Er beginnt mit einem rollenden Würstchenstand, aus dem sich sehr schnell ein erfolgreiches Fleischhandelsgeschäft entwickelt. Schon wenige Jahre später schreibt er sinngemäß an seine Schwester Catharine Grummer: „Ich bin ein gemachter Mann.“ Ob dies der exakte Wortlaut ist, lässt sich nicht mehr rekonstruieren – sämtliche Briefe Heinrichs an Catharine sind in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs bei der Einnahme ihres Wohnortes Munderloh verbrannt.

Den gesellschaftlichen Aufstieg belegen diverse Fotos jener Jahre: Sie dokumentieren den Umzug von einem eher bescheiden anmutenden Holzhaus in der Cortland Street zu einem Anwesen in der Fairfield Avenue und den Wechsel vom Pferdegespann zum Automobil. Keine Frage, Heinrich, Sophie und den vier Kindern geht es am Vorabend des über Europa heraufziehenden Ersten Weltkriegs gut.

Das Ende des Krieges, in den im April 1917 mit teils massiven deutschfeindlichen Begleiterscheinungen auch die USA eintreten, erlebt Heinrich als Witwer: Sophie stirbt am 4. September 1916 im Alter von nur 55 Jahren. Zusammen mit Sohn Carl arbeitet Heinrich danach weiter im eigenen Betrieb, während der älteste Sohn Heinrich Bernhard 1918 nach Abschluss seines Chemiestudiums Teilhaber der noch heute bestehenden Laborfirma Wilkens Anderson Company wird. Tochter Adele bleibt ebenfalls in Chicago und heiratet dort im September 1923 Martin Obermaier. Der jüngste Sohn Herbert zieht nach Kalifornien, wo er am 3. Juli 1924 ohne Nachkommen stirbt.

Wann Heinrich sich zur Ruhe setzt, ist in der Familie nicht mehr bekannt – ebenso wenig, wie er seine letzten Jahre verbringt. Er stirbt am 3. September 1929 und wird wenige Tage später neben Sophie auf dem Eden Cemetery im Chicagoer Vorort Schiller Park beerdigt.