Gesine Haverkamp – Biographie

Gesine Christine Haverkamp wird am 22. Juni 1904 als einziges Kind von Dietrich Osterloh und Johanne Christine Osterloh auf dem elterlichen Hof in Sandersfeld (heute: Ingo und Elke Haverkamp) geboren.

Eine Woche vor Gesines Geburt besiegelt das bis heute größte zivile Schiffsunglück der USA den Niedergang des New Yorker Stadtteils Little Germany. Dort leben zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr als 50.000 deutschstämmige Einwanderer, die ähnlich wie Italo-Amerikaner in Little Italy oder die Bewohner von Chinatown ihre heimischen Sitten und Bräuche pflegen. Dazu gehört es unter anderem, alljährlich das Ende des Sonntagsschuljahres an Bord eines gecharterten Schiffes zu feiern. Am Morgen des 15. Juni 1904 besteigen deshalb fast 1.400 Gemeindemitglieder –überwiegend Frauen und Kinder – am East River den Raddampfer „General Slocum“.

Gegen 9.30 Uhr entdecken Matrosen im Laderaum ein Feuer, das sich rasch ausbreitet. Löschversuche scheitern an der veralteten Ausrüstung, die eilig ausgegebenen Schwimmwesten sind ebenso unbrauchbar wie die mitgeführten Rettungsboote. Weil er angesichts gefährlicher Strudel nicht sofort das rettende Ufer ansteuern kann, versucht Kapitän William van Schaick in voller Fahrt die etwa eine Meile entfernte Insel North Brother Island zu erreichen. Dabei facht Gegenwind das Feuer weiter an. Unter den Passagieren bricht Panik aus – viele springen ins Wasser, obwohl sie Nichtschwimmer sind. Offiziell kommen bei der Katastrophe 1.021 Menschen ums Leben. Die tatsächliche Opferzahl dürfte aber höher liegen, da für Kinder unter zwölf Monaten keine Fahrscheine ausgegeben wurden.

Von den Familien, die bereits längere Zeit in Little Germany leben, ist fast jede von einem Todesfall betroffen. Viele Hinterbliebene ziehen weg, die Selbstmordrate im Viertel schnellt in die Höhe und am Ende gibt es auch noch Streit um die Verteilung der Entschädigungsgelder. Daran zerbricht die Gemeinschaft: Bereits bei der Volkszählung von 1910 ist nur noch ein kleiner Rest der ursprünglichen Bewohner am angestammten Wohnsitz gemeldet. Auf dem Friedhof Lutheran All Faiths Cemetery im Stadtteil Queens sind allerdings noch heute Grabsteine mit dem Sterbedatum 15. Juni 1904 zu finden.

Die Nachricht vom Brand auf der „General Slocum“ geht um die Welt, aus Deutschland schickt Kaiser Wilhelm II. ein Beileids-Telegramm. Auch in Hurrel und Sandersfeld dürfte das Unglück Aufmerksamkeit erregen, denn viele Dorfbewohner haben Verwandte in den USA. Unter anderem auch Gesines Großmutter Gesine Margarete Schwarting, die bis zu deren Tod im November 1897 in regem Briefkontakt mit ihrer nach Nebraska ausgewanderten Halbschwester Anna Sophie Freese steht.

Für Gesine selbst ist eine Auswanderung – anders als zum Beispiel für die im gleichen Jahrzehnt geborenen Hurreler Clara Wiedau und Heinrich Janzen – nie ein Thema. Denn dass sie als Einzelkind eines Tages den von ihren Eltern in neunter Generation geführten Osterloh-Hof übernehmen wird, steht für Gesine fest, noch bevor sie die Volksschule in Kirchkimmen abschließt. Dass dieser mit einer Fläche von rund 40 Hektar bei einigermaßen solider Betriebsführung auch bei möglicherweise wieder etwas größerer Familie ein mehr als auskömmliches Einkommen garantiert, ebenfalls.

Wie schnell scheinbar in Stein gemeißelte Lebensentwürfe durch äußere Umstände ins Wanken geraten können, erfährt Gesine gleichwohl schon als Kind. In den Wochen nach ihrem zehnten Geburtstag schaukelt sich nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Frau Sophie in Sarajevo die bei allen europäischen Großmächten vorhandene Lust am Zündeln derart hoch, dass es aus der Spirale der Juli-Krise scheinbar keinen diplomatischen Ausweg mehr gibt: Am 1. August 1914 beginnt der Erste Weltkrieg.

Doch auch in dieser Phase ihres Lebens hat Gesine Glück. Mit 42 Jahren ist ihr Vater zu alt, um noch in den Krieg ziehen zu müssen. Dass sie selbst künftig neben der Schule ordentlich auf dem Hof mit anpacken muss, um den Ausfall der an die Front abkommandierten Landarbeiter zu kompensieren, steht freilich außer Frage. Gleiches gilt für Großmutter Gesine Margarete – bei Kriegsausbruch 68 Jahre alt – und ihren zehn Jahre jüngeren Ehemann Heinrich Schwarting.

Der von deutscher Seite mit viel Begeisterung begonnene Krieg endet im November 1918 mit einer Niederlage und der Abdankung von Kaiser Wilhelm, an Stelle der Monarchie tritt die Weimarer Republik. Aus dem Großherzogtum Oldenburg, zu dem Hurrel und Sandersfeld gehören, wird der Freistaat Oldenburg. Veränderungen, die Gesine ebenso auf dem elterlichen Hof erlebt wie den Tod von Großmutter Gesine Margarete im April 1920 und den rasanten, in der Hyperinflation mündenden wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands. Erst Anfang 1924 geht es mit der Einführung der Rentenmark wieder ein Stück weit bergauf.

Wo Gesine in jenen Jahren ihren künftigen Mann Johann Haverkamp aus Hurrel kennenlernt, ist nicht überliefert. Obwohl Gesine in Kirchkimmen zur Schule geht, gibt es zahlreiche Berührungspunkte: Mutter Johanne ist in Hurrel geboren, Gesines Tante Anna Catharine lebt dort seit ihrer Hochzeit mit Heinrich Rüdebusch. Zudem hat Martin Hermann Schwarting, der Bruder ihres Stief-Großvaters Heinrich Schwarting, bis zu seinem Tod 1913 in unmittelbarer Nähe des Haverkamp-Hofes (heute: Eike und Nathalie Haverkamp) einen Betrieb geführt (heute: Jörg und Monika Wittkopf). Heinrichs Neffe Carl Schwarting wiederum, seit der Schulzeit eng mit Johann Haverkamp befreundet, arbeitet nach dem Ersten Weltkrieg einige Jahre lang auf dem Osterloh-Hof. Dann gibt es noch den Reiterverein Sandersfeld, der mit Carl und Johann zwei überaus aktive Mitglieder in seinen Reihen hat und eine in der Nähe des Osterloh-Hofes liegende Weide als Übungsgelände nutzt.

Gesine und Johann heiraten am 6. Mai 1926, und Johann siedelt auf den Osterloh-Hof über. Dort wird jedoch schnell klar, dass Johann und Gesines Eltern nicht sonderlich gut miteinander auskommen. Deshalb ziehen Dietrich und Johanne Osterloh zusammen mit Heinrich Schwarting in ein am Rande des Hofgeländes liegendes, zuvor an Gustav Kleine verpachtetes Heuerhaus. In den folgenden Jahren bringt Gesine mit Hanna (Oktober 1927), Gerda (April 1929), Edo (Januar 1934), Hans (Januar 1937) und Bernhard (Dezember 1939) insgesamt fünf Kinder zur Welt.

Zwar füllt bei Edos Geburt mit Paul von Hindenburg noch immer derselbe Mann das Amt des Reichspräsidenten aus, der es schon bei Gesines und Johanns Hochzeit innehatte. Von dessen einstiger Machtfülle ist jedoch seit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 kaum etwas geblieben. Hatte Hindenburg in der Endphase der von der Weltwirtschaftskrise schwer gezeichneten Weimarer Republik mit immer neuen Notverordnungen regiert, so ermöglicht es das im März 1933 verabschiedete Ermächtigungsgesetz Hitlers Nationalsozialisten, Deutschland Schritt für Schritt in eine Diktatur zu verwandeln. Die sich daran anschließende Aufrüstung der Wehrmacht mündet drei Monate vor Bernhards Geburt in den Zweiten Weltkrieg.

Wieder hat Gesine das Glück, dass kein direktes Familienmitglied an die Front muss. Zwar erhält Johann einen Stellungsbefehl, der aber angesichts seines fortgeschrittenen Alters – er ist 1894 geboren – nach wenigen Monaten aufgehoben wird. Bemerkbar macht sich der Krieg in Sandersfeld in den folgenden zweieinhalb Jahren vor allem durch vermehrte Luftangriffe alliierter Flieger auf das nahegelegene Bremen, die 1942 mit mehr als 80.000 über der Stadt abgeworfenen Brandbomben einen ersten Höhepunkt erreichen. Auf dem Rückflug nehmen die Piloten auch vereinzelte Gehöfte ins Visier – was dem ehemaligen Osterloh- und nunmehrigen Haverkamp-Hof in der Nacht vom 29. auf den 30. Juni 1942 zum Verhängnis wird. Eine Stabbrandbombe entzündet ein Strohlager und lässt die gesamte Hofanlage bis auf die Grundmauern niederbrennen. Gesine, die während des Angriffs mit ihrer Familie im gemauerten Kartoffelkeller hockt, kann nur hilflos zusehen. Für die kommenden Jahre wird eine neben den eilig wiedererrichteten Stallgebäuden provisorisch aufgestellte Baracke ihr neues Zuhause.

Gibt es bis Mitte 1941 in Hurrel und Sandersfeld unter den einberufenen Dorfbewohnern überhaupt keine Kriegstoten, so häufen sich ab 1943 die Verlustmeldungen. Zu den Opfern gehören unter anderem Gesines Vettern Gustav, Georg und Heino Rüdebusch. Was folgt, ist der komplette militärische Zusammenbruch und die anschließende Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen. Zu diesem Zeitpunkt leben auf dem Haverkamp-Hof bereits mehrere Flüchtlinge, darunter die Familie von Gerd Köhler aus Oberschlesien.

Als Gesine und Johann im Mai 1951 Silberhochzeit feiern, hat sich die allgemeine Lage nach Währungsreform und Gründung der Bundesrepublik Deutschland wieder einigermaßen stabilisiert. Mehr noch – die Wirtschaftswunderjahre beginnen. Unmittelbar nach Ende des Jahrzehnts übergeben Johann und Gesine den Hof an Sohn Edo und dessen Frau Edith Hoffrogge. Für Gesine der Anlass, zu Hause ein Stück weit kürzer zu treten. Anders als Johann, der sehr viel mit dem Reiterverein und auf Veranstaltungen wie Tierschauen unterwegs ist, beschränkt sie ihre Aktivitäten aber auf die Nachbarschaft und die unmittelbare Umgebung. Häufig besucht sie beispielsweise mit dem Rad Henni Heinemann, die jüngste Schwester von Johanns Schulfreund Carl Schwarting und Nichte ihres Stief-Großvaters Heinrich Schwarting, auf dem Hof von Johann und Ilse Heinemann in Hurrel (heute: Günter und Renate Heinemann).

Im Sommer 1970 erleidet Johann Haverkamp einen Autounfall, von dessen Folgen er sich nicht mehr erholt – er stirbt im Juli 1971. Die folgenden zweieinhalb Jahrzehnte verbringt Gesine weiter auf dem Hof in Sandersfeld, wo sie sehr zurückgezogen lebt. Neben dem Gottesdienst in Falkenburg, zu dem sie in der Regel von ihrem Enkel Dierk begleitet wird, besucht sie hin und wieder Veranstaltungen des Altenkreises der Kirchengemeinde. Auch der Kontakt zu den beiden in Kirchkimmen beziehungsweise Lintel verheirateten Töchtern Hanna und Gerda bleibt eng.

Nachdem Gesine ihren 90. Geburtstag noch bei einigermaßen guter Gesundheit feiern kann, lassen ihre Kräfte in den folgenden zwei Jahren deutlich nach. Sie stirbt nach längerer Bettlägerigkeit am 14. Januar 1996 und wird vier Tage später auf dem evangelischen Friedhof in Ganderkesee beerdigt.