Diedrich Wieting – Biographie

Diedrich Wieting wird am 26. September 1904 als drittes Kind von Gerhard Wieting und Anna Catharine Wieting auf dem elterlichen Hof in Hurrel (heute: Edo Wieting und Klaus-Peter Wieting) geboren. Er ist der jüngere Bruder von Heinrich Wieting und Martha Kruse und der ältere Bruder von Georg Wieting. Darüber hinaus hat er mit Hinrich Wieting, Theodor Wieting und Anna Mathilde Wieting noch drei ältere Halbgeschwister aus der ersten Ehe seines Vaters mit Beta Brandt.

Am Tag von Diedrichs Geburt erlässt die Regierung von Neuseeland ein Gesetz, das den prominenten Risso-Delfin Pelorus Jack unter Schutz stellt. Der 1888 erstmals gesichtete Meeressäuger ist in den Jahren zuvor zu einer echten Touristen-Attraktion geworden: Er taucht regelmäßig auf, wenn Schiffe aus der Admiralty Bay oder dem Pelorus Sound in die Cook Strait genannte Meerenge fahren, die die Nord– von der Südinsel Neuseelands trennt. Dort gefährden Untiefen, Strömungen, Wasserwirbel und Unterwasserfelsen den Verkehr – und fast scheint es so, als führe Pelorus Jack die passierenden Schiffe sicher um alle Klippen herum. Zumindest kommt es in seiner Gegenwart zu keinerlei Zwischenfällen, so dass viele Seeleute den Delfin als Maskottchen sehen und mitunter sogar seine Ankunft abwarten, ehe sie mit der Einfahrt beginnen. Bis zu jenem Tag im Jahre 1903, an dem der Überlieferung zufolge ein betrunkener Fahrgast des Fährschiffs „Penguin“ auf Pelorus Jack schießt und ihn dabei an der Rückenflosse verletzt. Eine Tat, für die der Schütze von der Mannschaft der „Penguin“ fast gelyncht worden wäre. Ähnliches soll der „Sea Fisheries Act“ vom 26. September 1904 künftig verhindern.

Nachdem sich Pelorus Jack damals einige Wochen lang nicht mehr hatte blicken lassen, zieht er inzwischen wieder seine Kreise in der Cook Strait, als ob nichts gewesen wäre. Nur um die „Penguin“ – so will es jedenfalls die Legende – macht er fortan einen großen Bogen. Für den 1864 in Dienst gestellten Dampfer ein böses Omen: Er kollidiert am 12. Februar 1909 bei stürmischem Wetter mit einem Riff und sinkt kurz vor Wellington Harbour. Beim größten Schiffsunglück Neuseelands im 20. Jahrhundert verlieren 72 Menschen ihr Leben. Etwas mehr als drei Jahre später verschwindet Pelorus Jack dann nach einer letzten Sichtung im April 1912 spurlos. Lange Zeit hält sich das Gerücht, norwegische Walfänger hätten ihn harpuniert. Sehr wahrscheinlich ist er jedoch ganz profan an Altersschwäche verendet.

Im April 1912 – jener Monat, in dem vor Neufundland die „Titanic“ sinkt – besucht Diedrich bereits seit einem Jahr die Volksschule in Hurrel. Dort gehören neben seinen 1902 und 1903 geborenen älteren Geschwistern Heinrich und Martha unter anderem Diedrich Gramberg, Georg Hartmann, Bernhard Haverkamp, Diedrich Heinemann, Heinrich Janzen, Gerhard Pflug, Georg Tönjes und Wilhelm Witte zu den in etwa gleichaltrigen Mitschülern, mit denen er im Sommer 1914 zunächst die Juli-Krise und schließlich den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlebt. Daran nimmt Vater Gerhard, damals 46 Jahre alt, zwar nicht mehr teil – wohl aber Diedrichs ältere Halbbrüder, von denen am Ende nur Hinrich lebend in die Heimat zurückkehrt. Diedrichs Halbschwester Anna Mathilde wiederum ist bereits fünf Wochen nach seiner Geburt an einer Hirnhautentzündung verstorben.

Der an der heutigen Bremer Straße gelegene Wieting-Hof, in den Diedrichs Vater 1891 eingeheiratet ist, gehört mit einer Fläche von rund 35 Hektar zu den größeren Betrieben des Dorfes. In dessen Bewirtschaftung dürfte Diedrich spätestens nach der Einberufung der Halbbrüder zum Kriegsdienst maßgeblich eingebunden sein. Auch nach Schulabschluss und Konfirmation arbeitet er dort allem Anschein nach weiter und erlebt neben dem politisch wie wirtschaftlich holprigen Start der Weimarer Republik unter anderem die sich 1923 zur Hyperinflation ausweitende Geldentwertung – ohne sich angesichts des in Hurrel geltenden, seinen 1907 geborenen Bruder Georg begünstigenden Jüngstenrechts ernsthaft Hoffnungen darauf machen zu dürfen, den Hof eines Tages weiterzuführen.

Gleichwohl besucht Diedrich in den 20er Jahren die Landwirtschaftsschule in Delmenhorst. Bald darauf lernt er Johanne Wellmann aus Ochholt kennen, die dort gemeinsam mit ihrer Mutter eine kleine, nach dem Tod des Vaters 1924 vom nahegelegenen Wellmann-Stammhof abgetrennte Brinksitzer-Stelle (heute: Christof Rieke) bewirtschaftet. „Hanni“ und „Diet“, wie Diedrich mutmaßlich seit frühester Kindheit gerufen wird (weshalb er wohl auch Dokumente grundsätzlich mit „Dietrich“ unterzeichnet), heiraten im Mai 1930. Danach zieht Diedrich nach Ochholt, wo im Juni 1931 Tochter Annegret geboren wird. Ein Jahr später stirbt in Hurrel Diedrichs nach einer Operation an den Lehnstuhl gefesselte Mutter Anna.

Mit einem Besitz von gerade einmal fünf Hektar kommen Diedrich und Johanne nicht eben komfortabel, aber doch einigermaßen abgesichert durch die auch Deutschland immer stärker in den Würgegriff nehmende Weltwirtschaftskrise. Eine Krise, an der die von immer weniger Bürgern getragene Republik am Ende zerbricht: Am 30. Januar 1933 ernennt Präsident Paul von Hindenburg den NSDAP-Führer Adolf Hitler zum Reichskanzler, das zwei Monate später erlassene Ermächtigungsgesetz ebnet den Weg von der Demokratie in die Diktatur des NS-Staats. Als 1936 Johannes Mutter stirbt und als zweites Kind Sohn Rolf geboren wird, laufen trotz Hitlers im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele in Berlin immer wieder betonten Friedensbeteuerungen die Kriegsvorbereitungen der ein Jahr zuvor gegründeten Wehrmacht bereits auf Hochtouren. Es folgen der Anschluss Österreichs, die Zerschlagung Tschechiens, der Einmarsch ins Memel-Gebiet und der Überfall auf Polen, mit dem am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg beginnt.

Als Polen bereits besiegt ist und der Frankreich-Feldzug unmittelbar bevorsteht, erhält im Frühjahr 1940 auch Diedrich seinen Stellungsbefehl. Eingesetzt wird er zunächst an der angesichts des Nichtangriffspakts mit der Sowjetunion ruhigeren Ostfront – während zugleich ein 14-jähriges Mädchen namens Anna aus dem annektierten Generalgouvernement nach Ochholt verschleppt wird. Sie arbeitet bis zum Ende des Krieges auf dem Wieting-Hof und wird ungeachtet der dort weitgehend ignorierten Polen-Erlasse vor allem für Diedrichs Sohn Rolf zu einer wichtigen Bezugsperson. Diedrich selbst wiederum marschiert nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 mit der Wehrmacht ins zuvor sowjetisch besetzte Litauen ein, wo es in der Folge zu zahlreichen gegen die jüdische Bevölkerung gerichteten Pogromen kommt. Diedrich wird darüber innerhalb der Familie später die eine oder andere Anmerkung machen („da sind schreckliche Dinge geschehen“), aber zeitlebens nie ins Detail gehen.

Nachdem sich das Blatt im Osten mit der verlorenen Schlacht um Moskau und vor allem mit der deutschen Niederlage bei Stalingrad zugunsten der Verteidiger wendet, wird Diedrich Ende 1943 oder Anfang 1944 an die Westfront abkommandiert. Als Artillerist sichert er auf der Strecke von Caen nach Cherbourg Nachschubzüge für die am Atlantikwall stationierten Truppen. Eine Tätigkeit, die seine ihn schon in jungen Jahren behindernde Schwerhörigkeit noch ein gutes Stück weit vergrößert.

Nur eine Woche vor der Invasion der Alliierten wird Diedrich Informationen aus der Familie zufolge aus der Normandie abgezogen und weiter im Landesinneren eingesetzt – was ihm sehr wahrscheinlich das Leben rettet, denn die Verluste der überall den Rückzug antretenden deutschen Besatzer sind hoch. Irgendwann und irgendwo im Chaos der letzten Kriegsmonate gerät Diedrich dann in amerikanischen Gewahrsam und verbringt den Sommer 1945 auf dem Fliegerhorst von Bad Aibling. In der bayerischen Kleinstadt hält die US-Armee in jenen Monaten unter freiem Himmel zeitgleich bis zu 100.000 deutsche Soldaten gefangen, neben Diedrich unter anderem den späteren Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass und den angehenden Priesterschüler Joseph Ratzinger, zwischen 2005 und 2013 als Papst Benedikt XVI. Oberhaupt der katholischen Kirche.

Ende August 1945 kehrt Diedrich aus Bad Aibling nach Ochholt zurück. Kurz nach Abschluss der Potsdamer Konferenz befindet sich im kriegszerstörten Deutschland nahezu alles im Fluss. Der frühere Freistaat Oldenburg ist britische Besatzungszone – mit Ausnahme des Landkreises Wesermarsch: Dort geben bis zum Jahresende wie im nahegelegenen Bremen die Amerikaner den Ton an. In Haren an der Ems wiederum ist im Frühsommer 1945 eine zunächst Lwów und dann Maczków genannte polnische Enklave entstanden, in der inzwischen auch Diedrichs und Johannes ehemalige Mitarbeiterin Anna wohnt. Aus den früheren deutschen Ostgebieten strömen Millionen Heimatvertriebene nach Norddeutschland. Drei von ihnen kommen vorübergehend auf dem Wieting-Hof unter: Karl und Adele Scholz mit der bei Kriegsende zehnjährigen Tochter Regina.

Da Diedrich als politisch unbelastet gilt, bestimmt ihn die Besatzungsbehörde im Herbst 1945 als Ansprechpartner für sein Heimatdorf. Diese Tätigkeit übt er allerdings nur ein gutes halbes Jahr aus, bedingt möglicherweise auch durch seine Schwerhörigkeit. Die hindert ihn allerdings nicht daran, bald eine Teilzeitstelle auf der Bezugsgenossenschaft in Neuenkoop anzunehmen – wohl wissend, dass es mit einem Hof seiner Größe künftig schwierig werden könnte, den Lebensunterhalt allein aus der Landwirtschaft zu bestreiten. Geld ist denn auch in der Familie all die Jahre ein eher knappes Gut. Vermutlich hätte es Diedrich vor diesem Hintergrund gern gesehen, wenn Sohn Rolf nach acht Jahren Volksschule wie die meisten Klassenkameraden zügig eine Berufsausbildung aufgenommen hätte. In dieser Frage behält jedoch einmal mehr Ehefrau Johanne das letzte Wort, deren elf ältere Geschwister bis auf eine Ausnahme kaufmännisch tätig sind beziehungsweise eine Lehrer- oder Beamten-Laufbahn eingeschlagen haben. Sie setzt durch, dass Rolf das Gymnasium in Brake besuchen kann.

Tochter Annegret arbeitet derweil auf dem Hof des späteren Landtags- und Bundestagsabgeordneten Karl-Hans Lagershausen in Schlüte. Anfang der 50er Jahre wechselt sie dann auf einen Hof in Tossens und lernt dort ihren künftigen Ehemann Lüder Fels kennen. Annegret und Lüder heiraten 1953, aus der Ehe gehen für Diedrich und Johanne mit Fokke und Lüder Junior zwei Enkelsöhne hervor. Rolf, nach VWL-Studium und Promotion in Kiel einer der Mitgründer des Baseler Beratungsunternehmens Prognos, steuert 1963 das dritte Enkelkind Boris bei. Rolfs ein Jahr zuvor in Kiel geschlossene Ehe mit Erika Oberschorfheide ist einer der seltenen Anlässe, zu denen Diedrich Ochholt in den folgenden Jahrzehnten noch einmal für eine etwas größere Reise verlässt. Seinem Argument, er habe von Europa genug gesehen, hat Johanne zu ihrem Bedauern wenig entgegenzusetzen.

Im Mai 1980 feiern Diedrich und Johanne mit Verwandten, Nachbarn und Freunden Goldene Hochzeit. Danach baut Johanne, die bereits seit längerem mit Herzproblemen kämpft, gesundheitlich deutlich ab. Sie stirbt im Juni 1984 kurz vor ihrem 80. Geburtstag, woraufhin Diedrich noch einige Jahre allein auf seinem Hof lebt. Zu einem wichtigen Bezugspunkt in dieser Phase seines Lebens wird Katzendame „Pussy“, die mit Diedrichs sich weiter verschlimmernden Schwerhörigkeit keinerlei Probleme hat. Den Kontakt zur Welt hält er durch eifriges Studium der Tageszeitung. Ende der 80er Jahre zieht Diedrich dann nach Brake zu Tochter Annegret, die ihn bereits vorher vielfältig unterstützt hat. Für Sohn Rolf, der mit seiner zweiten Ehefrau Ingrid zwischen Hannover und Portugal pendelt, gestalten sich die Stippvisiten in die alte Heimat naturgemäß schwieriger. Aber auch er schaut in regelmäßigen Abständen beim Vater vorbei.

Diedrich stirbt am 13. November 1993 in Brake und wird fünf Tage später auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude beerdigt.