Anna Katharine Tönjes – Biographie

Anna Katharine Johanne Tönjes wird am 20. August 1873 als erstes Kind von Tönjes Hinrich Wilkens Junior und Gesine Wilkens auf dem elterlichen Hof in Hurrel (heute: Udo und Svetlana Wilkens) geboren. Sie ist die ältere Schwester von Gesine Schweers, Bernhard Wilkens, Hinrich Wilkens und Friedrich Wilkens. Darüber hinaus hat sie mit Heinrich Wilkens, Johann Heinrich Wilkens und Catharine Grummer drei ältere Halbgeschwister aus den beiden früheren Ehen ihres Vaters mit Metta Margareta Wilkens und Gesche Margarete Wilkens.

In den Wochen und Monaten um Annas Geburt herum erschüttert der Gründerkrach die internationale Finanzwelt. Begonnen hat er am 9. Mai 1873 in Wien: Wenige Tage nach Eröffnung der Weltausstellung wechseln die Kurse an der zuvor boomenden Wiener Börse plötzlich die Richtung und reißen innerhalb weniger Stunden 120 Firmen in die Pleite. Über London und Paris erreicht die Krise am 19. September die Wall Street, wo die New York Stock Exchange nach dem Bankrott des Bankhauses Jay Cooke & Company zum ersten Mal in ihrer Geschichte für zehn Tage den Handel einstellen muss. Am 28. Oktober schließlich erlebt auch die Berliner Börse einen „Schwarzen Dienstag“.

Während rund um den Globus Vermögen zusammenschmelzen und Existenzen vernichtet werden, legt der amerikanische Farmer Joseph Glidden den Grundstein für seinen zukünftigen Reichtum. Mit einer vergleichsweise simplen Erfindung: Er verbessert im Herbst 1873 einen kurz zuvor von seinem Landsmann Henry Rose zum Patent angemeldeten Stacheldraht, indem er die daran angebrachten Metalldornen so fixiert, dass sie nicht mehr hin und her rutschen können. Dadurch hält Gliddens Draht auch dem Ansturm größerer Tiere stand und revolutioniert so die Weidehaltung von Rindern.

In Hurrel gibt es zu jener Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen einzigen Aktienbesitzer. Auch an Stacheldraht herrscht angesichts der im Vergleich zum Mittleren Westen der USA nur geringen Viehdichte zunächst einmal kein Bedarf. Dennoch hinterlässt zumindest das erste der genannten Ereignisse Spuren im Dorf. Infolge des Gründerkrachs sinken nämlich im Deutschen Reich auf breiter Front die Preise für landwirtschaftliche Produkte. Verstärkt wird die bis zum Ende des Jahrzehnts anhaltende Abwärtsspirale durch billige Getreide-Importe aus den USA und Russland, denen Reichskanzler Otto von Bismarck schließlich ab 1878 mit Schutzzöllen begegnet.

Keine leichte Zeit also, in die Anna hineingeboren wird – ganz zu schweigen von im Großherzogtum Oldenburg allgegenwärtigen Plagen wie der bislang kaum erforschten Tuberkulose oder der noch immer viel zu hohen Kindersterblichkeit. So gesehen ist es fast schon eine glückliche Fügung, dass mit Ausnahme ihres ältesten Halbbruders Heinrich und einer ebenfalls in der ersten Ehe des Vaters namenlos verstorbenen Halbschwester alle Geschwister das Erwachsenenalter erreichen.

Kurz vor der Geburt von Bruder Hinrich im Juni 1880 wird Anna in die Volksschule in Lintel eingeschult. Dort gehören neben Schwester Gesine Sophie Witte, Hinrich Schweers und Johann Wachtendorf zu ihren in etwa gleichaltrigen Mitschülern. Im selben Jahr wandert einer der etwas älteren Mitschüler, Heinrich Brockshus, mit seinen Eltern und zwei bereits konfirmierten Geschwistern nach Nordamerika aus – ein Ereignis, das im Dorf bestimmt für Gesprächsstoff sorgt. Denn die Auswanderungen von Hurrelern häufen sich. Neben Heinrichs älteren Geschwistern Hermann, Johann Hinrich, Mette und Johann Christian Brockshus sind unter anderem Gesine Haverkamp, Beta Mönnich, Bernhard Tönjes, Johann Tönjes und Heinrich Tönjes diesen Weg gegangen. Gut möglich, dass Anna schon vor ihrer Konfirmation so manches Mal darüber nachdenkt, den gleichen Schritt zu tun. Ihre Chancen, eines Tages den elterlichen Hof übernehmen zu können, tendieren schließlich bei vier Brüdern und einer jüngeren Schwester gegen Null.

Wie die Beziehung zu ihrem künftigen Ehemann Heinrich Tönjes zustande kommt, darüber lässt sich nur spekulieren. Denn als Heinrich – mutmaßlich am 11. April 1878 – Deutschland Richtung Nebraska verlässt, ist Anna erst vier Jahre alt und dürfte vom Abschied des damals 18-Jährigen kaum Notiz nehmen. Zwischen den Familien Wilkens und Tönjes gibt es überdies zu diesem Zeitpunkt weder verwandtschaftliche noch nachbarschaftliche Kontakte. Denkbar ist allerdings, dass Annas elf Jahre älterer Halbbruder Johann Heinrich die Verbindung zu seinem ausgewanderten Schulkameraden aufrechterhält. Sollte Heinrich, der mittlerweile in Hooper lebt und dort für einen ebenfalls deutschstämmigen Farmer arbeitet, ihm hin und wieder schreiben, dürfte er das Leben im „Gilded Age“ der aufstrebenden Vereinigten Staaten in recht positiven Farben schildern. Und Johann Heinrich vielleicht sogar auffordern, ihm zu folgen.

Wie auch immer: Im Herbst 1892 kehrt Heinrich noch einmal nach Hurrel zurück und verbringt einige Monate auf dem elterlichen, mittlerweile von seinem Bruder Johann Friedrich Tönjes geführten Hof (heute: Heiko Pflug). Am Ende dieses Besuchs sind Anna, damals 19, und Heinrich ein Paar. Sie erklärt sich bereit, mit ihm in die USA zu gehen, und nicht nur das: Auch Johann Heinrich Wilkens wagt das Abenteuer Auswanderung, begleitet von Heinrichs Kusine Sophie Tönjes.

Der erste Teil ihrer Reise ohne Wiederkehr führt Anna nach Chicago, wo Johann Heinrich und Sophie am 17. Juni 1893 heiraten. Für die folgenden anderthalb Jahre klafft in den aus Annas Familie überlieferten Erinnerungen eine Lücke: Erzählungen zufolge arbeitet Anna eine Zeitlang in der von vielen deutschen Auswanderern bevölkerten Stadt, während Heinrich nach Nebraska zurückkehrt. Möglicherweise geht es bei der vorübergehenden Trennung darum, schnellstmöglich jeden verfügbaren Dollar für den geplanten Kauf einer eigenen Farm zusammenzubekommen.

Spätestens Anfang 1895 trifft auch Anna in Nebraska ein, am 5. Februar steht sie mit Heinrich in Hooper vor dem Traualtar. Nur kurz nach der Hochzeit verwirklicht sich ihr Traum vom eigenen Acker- und Weideland: Es liegt – inklusive dazugehörigem Farmgebäude – rund 60 Kilometer weiter nördlich nahe der Ortschaft Pender, mitten im Reservatgebiet der Omaha-Indianer. Dort bringt Anna am 7. Dezember 1895 Tochter Sophia zur Welt. Doch die Freude über den Nachwuchs währt nur kurz: Schon am 3. Januar des darauffolgenden Jahres tut Sophia bei vermutlich eisigen Temperaturen ihren letzten Atemzug.

Obwohl Annas nächstgeborene Kinder Louise (Dezember 1896) und Henry (Januar 1898) ebenfalls mitten im Winter zur Welt kommen, überstehen sie die allen Fortschritten bei der Geburtsnachsorge zum Trotz oft noch immer kritischen ersten Lebensmonate. Letzteres gilt auch für George (Juli 1899), Adele (Mai 1901), Harry (April 1903), Martha (November 1904), Raymond (März 1913) und Martin (Februar 1915). Lediglich die fünfte, im Februar 1906 geborene Tochter Hertha stirbt wie Sophia bereits nach wenigen Wochen. Insgesamt zieht Anna so neben der Arbeit auf der Farm acht Kinder groß und erlebt in dieser Zeit den Spanisch-Amerikanischen Krieg, den Ersten Weltkrieg mit der ab 1917 grassierenden anti-deutschen Hysterie, die 1919 eingeführte Prohibition und schließlich den „Black Thursday“ an der New Yorker Börse, der direkt in die Weltwirtschaftskrise mündet – ein noch epochaleres Ereignis als der in Annas Geburtsjahr ausgebrochene Gründerkrach.

Bereits ein Jahr vor dem erneuten Zusammenbruch der Börse siedelt Anna mit Heinrich und den beiden jüngsten Söhnen Raymond und Martin nach West Point über. Ihre Farm führen derweil Sohn Harry und dessen Ehefrau Rose weiter. Heinrich, gesundheitlich schon seit längerem angeschlagen, stirbt im Oktober 1933. Die folgenden, vor allem durch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs geprägten Jahre verbringt Anna in ihrem Haus an der South Niphon Street in West Point. Dort stirbt sie am 26. November 1947 an Herzversagen und wird vier Tage später an der Seite Heinrichs auf dem Friedhof der St. John‘s Lutheran Church in Pender beerdigt.