… von Werner Schütte
Aufgezeichnet im November 2017
Wie viele andere kurz vor dem oder im Zweiten Weltkrieg Geborene habe ich meinen Vater Heinrich Schütte in den ersten Lebensjahren kaum zu Gesicht bekommen. So gibt es aus dieser Zeit nur einige bruchstückhafte Erinnerungen. Unter anderem weiß ich noch, dass er sich damals auf einem seiner seltenen Heimaturlaube – er war in Frankreich stationiert – den Fuß gebrochen hat, als er mit zwei Pferden auf dem Weg zum Dorfschmied war. Zusammen mit meiner Mutter habe ich ihn dann im Lazarett in Kreyenbrück besucht. Eine andere Erinnerung aus jener Zeit ist, dass mein Vater, wenn er auf Urlaub nach Hause kam, meist eine Flasche Wein mitbrachte und diese dann zusammen mit unserem französischen Kriegsgefangenen Marcel trank.
Unvergesslich ist mir natürlich jener Tag im Sommer 1947, an dem mein Vater aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen wurde. Kurz vor seiner Ankunft erhielten wir die Nachricht, dass wir ihn vom Postbus in Oberlethe abholen sollten. Also fuhren meine Mutter, mein Bruder, unser damaliger Knecht Willy Meyer aus Eversten und ich mit dem Pferde-Fuhrwerk los. Unterwegs begegnete uns ein Motorrad mit Beiwagen, das wir aber nicht weiter beachteten. Das hätten wir vielleicht tun sollen, denn darin saß, wie sich später herausstellte, mein Vater. Er war schon früher als zur vereinbarten Stunde eingetroffen und hatte die erstbeste Mitfahrgelegenheit ergriffen. Als wir Oberlethe erreichten und ihn dort nicht antrafen, kehrten wir enttäuscht wieder um. Umso größer war dann die Freude, als wir meinen Vater bei der Ankunft auf dem Hof in der Tür stehen sahen.
Es dauerte nur etwas länger als ein Jahr, bis mein Vater wieder selbst Motorrad fuhr, eine Zündapp mit Tankschaltung. Er hatte schon vor dem Krieg in Hurrel ein Motorrad besessen, auch war seine Familie eine der ersten im Dorf mit einem eigenen Auto. Mein Vater hat immer oft und gern aus dieser Zeit erzählt, unter anderem davon, wie er in den 30er Jahren einmal Schützenkönig war und wie er in den Monaten vor dem Umzug nach Benthullen jede Woche zwischen Hurrel und der Baustelle auf dem neu zugewiesenen Land hin- und hergependelt ist. Am Schluss kannten die Pferde seines Gespanns den Weg so genau, dass er ihnen am Wochenende auf dem Heimweg freien Lauf lassen und sich schon vor der Ankunft ein wenig entspannen konnte.
Ganz abreißen lassen hat mein Vater den Kontakt nach Hurrel nie. Mit seinem früheren Dienstherrn Bernhard Haverkamp etwa blieb er zeitlebens befreundet, und natürlich war Bernhard auch zur im Oktober 1957 gefeierten Silberhochzeit meiner Eltern eingeladen. Dazu kam es jedoch nicht: Bernhard, der am Morgen jenes Tages eine Fuhre Schweine zum Schlachthof bringen wollte, hatte auf dem Weg dorthin – offenbar mit etwas zu viel Alkohol vom Vorabend im Blut – seinen Mercedes zu Schrott gefahren und anschließend den für die Gäste aus Hurrel angemieteten Bus verpasst. Noch lange danach schimpfte er bei jedem Besuch, dass er die Schweine besser im Hurreler Sand hätte laufen lassen als sie abzuliefern, das wäre für ihn das bessere Geschäft gewesen.
Alkohol im Straßenverkehr war in jenen Tagen nicht das große Thema – auch für meinen Vater nicht. So erinnere ich mich, dass er mit seiner Zündapp nach Sitzungen des Gemeinderates manchmal recht schräg auf den Hof gefahren kam. Auch beim regelmäßigen Skat mit unserem Nachbarn Karl Pieper und dem Schullehrer Gerd Reinders wurde das eine oder andere Bier getrunken. In dieser geselligen Runde amüsierte sich mein Vater dann so manches Mal augenzwinkernd darüber, dass Gerd Reinders zwar Englisch unterrichtete, der Sprache im Grunde genommen aber weniger mächtig war als er selbst, der ja knapp drei Jahre in britischer Gefangenschaft verbracht hatte.
Zu einem Sprachproblem der besonderen Art kam es einmal, als Erich Ritzinger, der ehemalige Mitgefangene meines Vaters aus Bayern, mit seinem damals fünfjährigen Sohn unsere Familie besuchte. Mein Neffe Manfred war im selben Alter, und die beiden versuchten sich auf dem Hof zu verständigen. Das klappte anfangs überhaupt nicht, weil der eine nur Bayerisch sprach und der andere nur Plattdeutsch, aber am Ende funktionierte es dann doch irgendwie. Auch die Freundschaft mit Erich Ritzinger hat ein Leben lang gehalten und gehörte zu den Dingen, die meinem Vater bis zu seinem Tod wichtig waren.