Martha Witte – Biographie

Martha Gesine Witte wird am 18. November 1878 als erstes Kind von Johanne Margarete Katharine Möhlenbrock in Hurrel oder in Tweelbäke geboren. Mit Johann Friedrich Klattenhoff und Heinrich Klattenhoff hat sie zwei jüngere Halbbruder aus der späteren Ehe ihrer Mutter mit Johann Klattenhoff. Ein weiterer, im April 1886 geborener Halbbruder kommt tot zur Welt und bleibt deshalb namenlos.

Am Tag vor Marthas Geburt schlägt ein Attentat auf Italiens König Umberto I. fehl. Während einer Parade durch Neapel greift der Anarchist Giovanni Passannante den neben seiner Ehefrau Margarethe in einer offenen Kutsche sitzenden Monarchen mit einer unter einem Tuch versteckten Stichwaffe – manche Quellen sprechen von einem Messer, andere von einem Säbel – an, verletzt ihn aber nur leicht am linken Arm. Der Überlieferung zufolge schleudert die Königin daraufhin Passannante geistesgegenwärtig einen auf ihrem Schoß liegenden Blumenstrauß ins Gesicht. Gleichzeitig versucht Italiens ebenfalls an Bord der Kutsche befindlicher Ministerpräsident Benedetto Cairoli, den Attentäter zu überwältigen, zieht sich dabei aber einen stark blutenden Schnitt am Oberschenkel zu. Erst der Schlag eines der die Kutsche begleitenden Wachsoldaten auf Passannantes Kopf setzt diesen außer Gefecht und leitet seine Festnahme ein.

Der Zwischenfall wird von den meisten Besuchern der Parade zunächst gar nicht bemerkt, löst aber umgehend hektische Aktivitäten aus. Obwohl Passannante bei seiner ersten Vernehmung angibt, alleine gehandelt zu haben, kommt es im Umfeld Monarchie-kritischer Kreise zu mehreren Verhaftungen. Am folgenden Tag werfen Unbekannte in Florenz eine Bombe in eine Demonstration von Königs-Anhängern, der Anschlag fordert drei Tote und mehrere Schwerverletzte. Auch in Pisa explodiert eine Bombe, richtet aber nur Sachschaden an. Ministerpräsident Cairoli, der eine anarchistische Verschwörung fürchtet, reagiert mit weiteren Verhaftungen – sieht sich aber schon bald mit dem Vorwurf politischer Gegner konfrontiert, die Lage nicht im Griff zu haben. Nach einem im Parlament eingebrachten Misstrauensvotum muss er am 11. Dezember 1878 zurücktreten. Giovanni Passannante wiederum wird im März 1879 in einem aufsehenerregenden Prozess zunächst zum Tode und dann zu lebenslanger Haft verurteilt.

Das Attentat an Umberto I. reiht sich ein in eine Kette ähnlicher Ereignisse des Jahres 1878. Erst im Oktober hatte Spaniens König Alfonso XII. einen Mord-Anschlag unverletzt überstanden, ebenso wie Deutschlands Kaiser Wilhelm I. im Mai. Bei einem zweiten Attentat nur drei Wochen später wird Wilhelm jedoch schwer verwundet und muss sich vorübergehend von Kronprinz Friedrich Wilhelm vertreten lassen. Nach Kur-Aufenthalten in Baden-Baden und Wiesbaden kehrt er erst im Dezember 1878 nach Berlin zurück und nimmt dort seine Arbeit wieder auf.

Ein turbulentes Jahr also für die europäischen Monarchien – aber auch für Marthas Mutter, die irgendwann im Frühsommer ihre mit ziemlicher Sicherheit ungewollte Schwangerschaft bemerkt. Über deren Umstände sowie Marthas Vater ist nichts weiter bekannt, selbst der Ort der unehelichen Geburt liegt heute im Dunkeln. Im Register des Huder Kirchenbuchs für das Jahr 1878 ist „Tweelbäke“ vermerkt, beim Eintrag zu Marthas späterer Hochzeit heißt es dagegen „geboren zu Hurrel“. Ist also Johanne Margarete Katharine Möhlenbrock 1878 auf irgendeinem Hof des Dorfes in Stellung und bekommt dort ihr Kind? Ist der unbekannte Vater womöglich sogar ein Hurreler? Ausgeschlossen ist das nicht, doch „Tweelbäke“ klingt plausibler – dort nämlich leben Marthas Großeltern Johann Friedrich und Anna Marie Möhlenbrock.

Indes, ihre Kindheit verbringt Martha weder in Hurrel noch in Tweelbäke, sondern in Dwoberg. Dorthin zieht ihre Mutter nach der im Mai 1881 beurkundeten Hochzeit mit Johann Klattenhoff. Marthas Stiefvater ist 14 Jahre älter als seine Ehefrau und arbeitet als Landpostbote vor den Toren der aufstrebenden Industriestadt Delmenhorst. Schon im September 1881 wächst die Familie um den ersten Halbbruder Johann Friedrich, im Dezember 1883 kommt der zweite Halbbruder Heinrich hinzu. Sehr wahrscheinlich im Frühjahr 1885 wird Martha dann in die örtliche Volksschule eingeschult.

Nach eher holprigem Start – einer unehelichen Geburt haftet im ausgehenden 19. Jahrhundert noch immer der Makel des „Unrechten“ an – scheint Martha Mitte der 1880er Jahre gesellschaftlich im nach wie vor von Wilhelm I. regierten Kaiserreich angekommen zu sein. Doch schon 1886 ändert ein Schicksalsschlag ihr Leben erneut von Grund auf: Nach der Geburt des dritten Halbbruders im April kommt ihre Mutter nicht wieder auf die Beine, sie stirbt am 2. Juli 1886. Wie es danach für Martha weitergeht, ist heute nicht mehr bekannt. Vermutlich verbleibt sie zunächst weiter mit ihren zwei Halbbrüdern im Haushalt des Stiefvaters und geht nach Schulabschluss und Konfirmation irgendwo in der näheren Umgebung von Delmenhorst in Stellung.

Das nächste amtlich überlieferte Lebenszeichen gibt es erst wieder am 24. April 1902, in Form der bereits angesprochenen Heiratsnotiz. Diese Spur führt nun definitiv nach Hurrel, denn Ehemann Johann Witte bewirtschaftet dort eine von seinem zwei Jahre zuvor verstorbenen Vater Johann übernommene Anbauer-Stelle (heute: Heike Burgmann). Gut möglich, dass Martha zunächst als mithelfende Magd auf den heutigen Burgmann-Hof gekommen ist, denn ihre Schwiegermutter Sophie Witte lebt schon seit 1888 nicht mehr und von den Geschwistern ihres Ehemannes arbeitet um die Jahrhundertwende herum allem Anschein nach niemand mehr mit auf dem Betrieb.

Dreieinhalb Monate nach der Hochzeit wird Martha zum ersten Mal Mutter – im August 1902 bringt sie Sohn Wilhelm zur Welt. Mit Johanne (August 1904), Heinrich (Juli 1906), Alma Klara (Juni 1909), Anna (Januar 1911) und Johann (Februar 1913) gesellen sich noch fünf weitere Kinder hinzu. Alma Klara übersteht allerdings (wie leider viel zu häufig in jenen Jahren) nicht das für Neugeborene kritische erste Lebensjahr, sie erliegt im April 1910 einer Lungenentzündung.

Wie Martha 1914 den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die auf dieses Ereignis folgenden schweren Jahre erlebt, ist nicht überliefert. Zwar gibt es in ihrer Familie anders als auf vielen anderen Hurreler Höfen keine kriegsbedingten Opfer. Noch vor dem Ende 1918 geschlossenen Waffenstillstand von Compiègne lauert jedoch mit der sich schnell über den Erdball verbreitenden Spanischen Grippe eine weitere Gefahr, die jüngsten Schätzungen zufolge allein im Deutschen Reich mehr als 250.000 Menschen dahinrafft.

Gehört am Ende auch Martha zu den Opfern der Pandemie? Dazu gibt das Kirchenbuch der Gemeinde Hude wie schon bezüglich ihres Geburtsortes keine eindeutige Antwort – vermerkt es mit „Grippe“ und „Herzschlag“ doch gleich zwei Todesursachen. Wie auch immer: Martha stirbt am 22. März 1920, beerdigt ist sie fünf Tage später auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude.