Johanne Stolle – Biographie

Johanne Gesine Stolle wird am 5. August 1904 als zweites Kind von Johann Wilhelm Witte und Martha Witte auf dem elterlichen Hof in Hurrel (heute: Heike Burgmann) geboren. Sie ist die jüngere Schwester von Wilhelm Witte und die ältere Schwester von Heinrich Witte, Alma Klara Witte, Anna Hobbie und Johann Witte.

Zwei Tage nach Johannes Geburt kommt es in den USA zu einem schweren Eisenbahn-Unglück. Ein Schnellzug der Missouri Pacific Railroad, von Denver nach St. Louis unterwegs, verlässt kurz nach 18.00 Uhr Ortszeit Colorado Springs. Rund zwölf Kilometer nördlich der nächstgrößeren Station Pueblo passiert er gegen 20 Uhr – wegen Gewitterwarnungen mit deutlich reduzierter Geschwindigkeit – eine Brücke über ein ausgetrocknetes Flussbett. Als die Lokomotive das andere Ufer erreicht hat, reißt eine wie aus dem Nichts auftauchende Sturzflut die Brücke und die gerade über sie hinwegrollenden Waggons mit sich fort. Dadurch wird auch die Lok in den Fluss gerissen, während gleichzeitig die Kupplung zum hinteren Zugteil bricht. Weil ein Schaffner geistesgegenwärtig die Notbremse zieht, bleiben die beiden letzten Waggons vom Absturz verschont.

Noch in der Nacht erreichen mehrere mit Ärzten und Krankenschwestern besetzte Sonderzüge die Unfallstelle. Das ganze Ausmaß der Katastrophe offenbart sich allerdings erst bei Sonnenaufgang. Helfer sind tagelang damit beschäftigt, die bis zu 35 Kilometer weit fortgeschwemmten Leichen ertrunkener oder erschlagener Passagiere einzusammeln. Viele der Toten stammen aus Pueblo, damaligen Zeitungsberichten zufolge sind in der rund 30.000 Einwohner zählenden Stadt mehr als 40 Familien betroffen. Die lokale Presse überschlägt sich geradezu mit den Schilderungen besonders tragischer Todesfälle oder wundersamer Rettungen. Lange Zeit bleibt unklar, wie hoch die Zahl der Opfer wirklich ist. Die ausführlichste, von einer Zeitung in Colorado Springs veröffentlichte Liste umfasst 136 Namen, mehr als bei jedem anderen Eisenbahnunfall in den USA zuvor.

Die Missouri Pacific Railroad weist jede Verantwortung für das Unglück von sich. Zwar listet eine routinemäßig einberufene Geschworenen-Jury diverse begünstigende Faktoren auf, etwa die relativ primitive Brücken-Konstruktion. Entscheidend in späteren Schadenersatz-Prozessen ist jedoch die Tatsache, dass der Zugführer seine Geschwindigkeit wegen der Gewitterwarnung bereits deutlich reduziert hatte. Ihn treffe deshalb ebenso wenig eine Schuld wie andere Bahn-Verantwortliche. Es handele sich vielmehr um einen tragischen Fall von höherer Gewalt, so das übereinstimmende Urteil der Richter.

Nicht nur in den USA, auch im Deutschen Reich kommt es Anfang des 20. Jahrhunderts immer wieder zu Zugunfällen. Nachdem in Johannes Geburtsjahr die meisten Zwischenfälle auf deutschen Schienen glimpflich verlaufen sind, macht 1905 vor allem der Eisenbahnunfall von Spremberg Schlagzeilen: Er fordert 19 Tote und 40 Schwerverletzte. Über die Hintergründe informieren die in Oldenburg erscheinenden „Nachrichten für Stadt und Land“ am 9. August 1905 – und sehen im „Sparsamkeitsprinzip“ die häufigste Ursache für vermeidbare Katastrophen.

Hat die genannte Tageszeitung ihren festen Platz auf dem Witte-Hof? Eine Frage, die sich 120 Jahre später natürlich nicht mit letzter Sicherheit beantworten lässt. Dasselbe gilt für die Frage, ob Johann Wilhelm und Martha Gesine Witte bis dahin jemals selbst mit der Eisenbahn gefahren sind – etwa vom nahegelegenen Hude in die Landeshauptstadt oder in die entgegengesetzte Richtung nach Bremen. Sehr wahrscheinlich ist beides nicht, müssen Johannes Eltern doch angesichts der recht geringen Größe ihres Besitzes und des wenig fruchtbaren Bodens im Hurreler Sand (nomen est omen) vermutlich jede Mark vor dem Ausgeben zweimal umdrehen.

Im April 1910 erliegt die erst im Juni 1909 geborene Schwester Alma Klara einer Lungenentzündung. Ein Jahr später wird Johanne in die Volksschule Hurrel eingeschult, wo unter anderem Else Busch, Diedrich Gramberg, Diedrich Georg Heinemann, Martha Spreen, Diedrich Wieting und Martha Wilkens zu ihrem Jahrgang gehören. Einen Tag vor dem 42. Geburtstag von Vater Johann Wilhelm bricht dann am 1. August 1914 der Erste Weltkrieg aus. Eine für alle Hurreler schwierige Zeit beginnt.

Als Johanne im Mai 1919 konfirmiert wird und die Schule verlässt, liegt der Waffenstillstand von Compiègne – er besiegelt die deutsche Niederlage – gerade einmal sechs Monate zurück. Zwar hat der Krieg in ihrer Familie keine Lücken gerissen. Dennoch gibt es nach der Schwester schon bald einen weiteren Abschied für immer zu beklagen: Im März 1920 wird Mutter Martha Gesine Opfer einer seit 1918 in immer neuen Wellen grassierenden Grippe-Epidemie.

Während der folgenden, durch die sich zur Hyperinflation auswachsenden Geldentwertung geprägten Jahre kümmert Johanne sich vermutlich intensiv um die beiden jüngsten Geschwister und unterstützt gleichzeitig mit ihren Brüdern Wilhelm und Heinrich Vater Johann Wilhelm in der Landwirtschaft. Erst als Mitte der 1920er Jahre auch Schwester Anna die Schule verlässt, öffnen sich wieder Freiräume. Geht Johanne danach irgendwo in der Gemeinde Dötlingen in Stellung und lernt dabei Heinrich Stolle aus Klattenhof kennen? Oder begegnet sie ihrem künftigen Ehemann auf einem der damals regelmäßig von den Gaststätten der näheren Umgebung veranstalteten Tanzabende?

Wie auch immer: Bei irgendeiner sich bietenden Gelegenheit werden Johanne und Heinrich ein Paar, sie heiraten am 24. Mai 1928. Heinrich Stolle betreibt in Klattenhof mit seiner seit 1925 verwitweten Mutter Elise einen deutlich größeren Hof als in Hurrel, er wird für Johanne nach der Hochzeit zum neuen Zuhause. Im September 1928 bringt sie Sohn Willy zur Welt, im Mai 1930 folgt Tochter Elly.

Politisch stehen die 1930er Jahre unter keinem guten Stern. Zwar scheint es, als hätte sich die im November 1918 ausgerufene Weimarer Republik trotz anfangs heftiger Anfeindungen stabilisiert. Die von den USA aus auf Deutschland übergreifende Weltwirtschaftskrise verschafft jedoch radikalen Parteien massiv Zulauf – vor allem der von Adolf Hitler geführten NSDAP, die ihren Stimmenanteil bei der Reichstagswahl vom 14. September 1930 von 2,6 auf 18,3 Prozent steigert. Zwei Jahre später holt sie bereits 37,3 Prozent, und nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933 ist die Weimarer Republik innerhalb weniger Monate Geschichte.

Auch den zweiten großen, 1939 durch den deutschen Überfall auf Polen ausgelösten Krieg des 20. Jahrhunderts übersteht Johanne mit ihrer Familie einigermaßen glimpflich. Zwar stirbt in Hurrel im November 1941 Vater Johann Wilhelm an einem Herzleiden, doch weder Ehemann Heinrich noch Sohn Willy oder einer von Johannes Brüdern gehören am Ende zu den mehr als 60 Millionen Kriegstoten. Nicht nach Hause zurück kehrt allerdings Helmut Hobbie: Der Ehemann von Schwester Anna stirbt im Oktober 1944 beim Angriff auf einen deutschen Truppentransporter im Mittelmeer.

Im Mai 1953 feiern Johanne und Heinrich Silberhochzeit. Sechs Monate später heiratet Tochter Elly Richard Feldhaus aus Geveshausen. Deren im Februar 1954 geborener Sohn Hartmut ist Johannes erstes Enkelkind. Das nächste, Willys Tochter Ingrid aus der Ehe mit Elfriede Wachtendorf aus Hurrel, kommt im November 1957 hinzu. Die Geburt von zwei weiteren Enkelkindern, Ellys Söhnen Werner (Februar 1959) und Reinhard (April 1961), erlebt Johanne nicht mehr mit: Sie stirbt am 16. April 1958 durch einen plötzlich erlittenen Herzschlag. Beerdigt ist Johanne drei Tage später auf dem Neuen Friedhof in Dötlingen.