… von Irmgard Wachtendorf
Aufgezeichnet im Oktober 2015
Georg Barkemeyer war mein Großvater mütterlicherseits. Auch wenn ich damals noch nicht bei ihm in Hurrel, sondern auf dem Hof meines Vaters Benno in Lintel zu Hause war, kannte ich ihn natürlich seit meiner frühesten Kindheit: Zusammen mit meiner jüngeren Schwester Elfriede und meiner Kusine Ilse habe ich ihn, Oma Frieda und unseren gemeinsamen Onkel Karl regelmäßig besucht. Viele dieser Besuche sind mir noch sehr lebhaft in Erinnerung – insbesondere jene in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als auf dem Barkemeyer-Hof außer den dreien auch noch die aus Schlesien stammenden Vertriebenen Maria und Theodor Moskwa wohnten.
Schon als Kind war mir bewusst, dass mein Großvater mich in seinem Testament als Hoferbin eingesetzt hatte und dass ich ihn deshalb in späteren Jahren wahrscheinlich sehr viel intensiver kennenlernen würde. Diese Zeit begann im Herbst 1953, kurz nach meinem 15. Geburtstag. Für mich bedeutete der Umzug nach Hurrel eine große Umstellung: Anders als bei uns zu Hause war der Tagesablauf meiner Großeltern auf die Minute genau geregelt. Zu Mittag gegessen wurde beispielsweise um Punkt zwölf Uhr – nicht einen Moment früher, nicht einen Moment später.
Auch sonst war mein Großvater sehr genau. Alles musste an seinem Platz stehen oder liegen – was sicher auch mit seiner bereits weit fortgeschrittenen Erblindung zu tun hatte. Schon wenige Monate nach meinem Einzug sah er praktisch überhaupt nichts mehr. Was ihn nicht daran hinderte, genau zu kontrollieren, ob ich meine Arbeit auch ordentlich verrichtete. Morgens nach dem Diele fegen machte er zum Beispiel regelmäßig die Runde und fühlte mit den Fingern nach, ob unter irgendeinem der dort abgestellten Eimer noch Staub lag. Nach dem ersten Mal war das selbstverständlich nie mehr der Fall.
Da große Teile des Hofes noch verpachtet waren, gab es anfangs nicht ganz so viel zu tun wie in späteren Jahren. Das ließ meinem Großvater ausreichend Zeit, auch tagsüber Besuch zu empfangen. Zu den regelmäßigen Gästen gehörten Gustav Schwarting, Heinrich Tönjes, Dietrich Osterloh und vor allem Georg Hartmann: Mindestens einmal pro Woche saßen die beiden in der Küche und sprachen über Themen, die Hurrel und die Welt bewegten. Dabei hatten sie zu fast allem eine eigene Meinung und vertraten diese auch, ohne Wenn und Aber. Gerieten sie darüber – was eher selten vorkam – einmal aneinander, stand Georg Hartmann auf, sagte kurz angebunden „Moin“ und ging. In der nächsten Woche kam er aber zur gewohnten Stunde wieder.
Die Abende verbrachten wir meist in der Küche. Nach den Radio-Nachrichten, während der sich jeder mucksmäuschenstill zu verhalten hatte, wurde über alte Zeiten gesprochen – einen Fernsehapparat gab es ja im Haus noch nicht. Bei einer dieser Gelegenheiten habe ich dann erfahren, dass es in den 20er Jahren zu Ratsherren-Zeiten ähnlich abgelaufen sein muss wie mit Georg Hartmann. Mein Großvater vertrat damals im Huder Gemeinderat Hurrel, Fritz Düser Altmoorhausen und Heinrich Hollmann Lintel. Zu den Sitzungen fuhren die drei immer gemeinsam mit dem Rad. Hatten sie dort zu einem Thema gemeinsam abgestimmt, hielten sie auf halbem Heimweg an der Abzweigung von der Hurreler Straße zur Schaftrift noch eine Weile an und unterhielten sich. Gab es Meinungsverschiedenheiten, fuhr dagegen anschließend jeder still seiner Wege.
Um für den Neubeginn des Hofes Maschinen anzuschaffen, lebten meine Großeltern in den 50er Jahren äußerst sparsam. Meinem Großvater fiel das leichter als meiner Großmutter, Sparsamkeit lag in seinem Naturell. Auch mit Feierlichkeiten konnte er wenig anfangen. Das war offenbar schon als junger Mann so. Zwar war er damals im gerade erst gegründeten Schützenverein Hurrel sehr aktiv. Zu den jährlichen Festen hingegen zog er es vor, als Kellner in der Gaststätte von Reinhard Asseln noch etwas Geld hinzuzuverdienen, anstatt mit seinen Schützenbrüdern welches auszugeben.
Meinen späteren Ehemann Gerold hat mein Großvater zwar noch kennengelernt, aber nicht mehr gesehen. Über dessen Art zu arbeiten hat er aber natürlich prompt Erkundigungen eingeholt, unter anderem bei Georg Hartmann. Der gab wohl, nachdem er Gerold einen Nachmittag lang auf dem Feld beobachtet hatte, schnell Entwarnung. Deshalb gehe ich davon aus, dass er sich in den letzten Jahren vor seinem Tod im Juni 1963 um die Zukunft des Hofes keine allzu großen Sorgen mehr gemacht hat.