Henni Heinemann – Biographie

Henni Gesine Heinemann wird am 19. September 1894 als drittes Kind von Martin Hermann Schwarting und Anna Adeline Schwarting auf dem elterlichen Hof in Hurrel (heute: Jörg und Monika Wittkopf) geboren. Sie ist die jüngere Schwester von Anna Wieting und Mathilde Egbers und die ältere Schwester von Carl Schwarting.

Drei Tage vor Hennis Geburt trifft ein Sonderzug mit 1.500 deutschen Siedlern aus der Provinz Posen am Bahnhof von Hammermühle in Hinterpommern ein. Ziel der später Huldigungsfahrt getauften Reise ist das vier Kilometer entfernt liegende Dorf Varzin, Wohnort des ehemaligen Reichskanzlers Otto von Bismarck. Von ihm erhoffen die Teilnehmer sich Unterstützung im Bestreben, ihre überwiegend von Polen bewohnte Provinz stärker zu germanisieren und so den seit Jahren anhaltenden Wegzug deutscher Familien einzudämmen. Bismarck bewirtet die Siedler auf seinem Gutshof und hält nach kurzer Grußadresse eine rund 45 Minuten lange Rede, in der er die Zugehörigkeit von Posen, Westpreußen und des Reichslandes Elsaß-Lothringen zum Deutschen Reich bekräftigt. Alle drei Provinzen würden „bis zum letzten Blutstropfen“ verteidigt.

Die unter anderem von den Ritterguts-Besitzern Ferdinand von Hansemann, Hermann Kennemann und Heinrich von Tiedemann organisierte Huldigungsfahrt ist eine Protestaktion gegen den aktuellen Reichskanzler Leo von Caprivi. Dessen Politik empfinden die deutschsprachigen Siedler in Posen als entschieden zu Polen-freundlich. Nur eine Woche später empfängt Bismarck in Varzin fast 2.000 ähnlich gesinnte Siedler aus Westpreußen. Auch ihnen sichert er Unterstützung zu. Angesichts der negativen Reaktionen, die seine erste Rede in der polnischen Presse hervorgerufen hat, verschärft Bismarck dabei den Ton und greift insbesondere den polnischen Adel scharf an. Dessen Vorstellungen von einem eigenen polnischen Staat seien illusorisch und in den derzeitigen geopolitischen Machtverhältnissen „ohne grundlegende Erschütterungen“ nicht realisierbar.

Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, gründen Hansemann, Kennemann und von Tiedemann am 3. November 1894 den Verein zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken. Zu diesem Zeitpunkt ist Leo von Caprivi bereits als Reichskanzler zurückgetreten – ohne aktives Zutun Bismarcks, der seinem Nachfolger zunehmend kritisch gegenüberstand. Für die Vereinsgründer gleichwohl ein Beleg dafür, dass sich ihre Huldigungsfahrten bezahlt gemacht haben. In der Folge veranstalten auch andere Interessengruppen entsprechende Fahrten. Statt nach Varzin führen sie allerdings meist nach Friedrichsruh in Schleswig-Holstein, wo sich Bismark nach dem Tod von Ehefrau Johanna im November 1894 bevorzugt aufhält. Dort stirbt er am 30. Juli 1898 im Alter von 83 Jahren.

Der bereits 1890 nach der Entlassung durch Kaiser Wilhelm II. einsetzende Personenkult um Otto von Bismarck nimmt nach seinem Tod geradezu beängstigende Formen ein. Kaum eine Stadt im Deutschen Reich oder in den Kolonien, die nicht eine Straße oder einen öffentlichen Platz nach dem Verstorbenen benennt. Die Zahl der meist durch Spenden finanzierten Denkmäler geht zudem in die Hunderte. Als einer der größten Bismarck-Verehrer in Hennis Heimat gilt der Oldenburger Verleger August Schwartz. Der Erfinder der Bildpostkarte lässt im Garten seiner Villa in der Rosenstraße ein Gewölbe errichten, in dem bunte Glühbirnen eine lebensgroße Büste Bismarcks anstrahlen.

Auch in Hurrel dürfte es an der Schwelle zum 20. Jahrhundert den einen oder anderen Bismarck-Fan geben. Vielleicht ist ja Georg Bernhard Schelling einer von ihnen – der Leiter der örtlichen Volksschule, die Henni von 1901 an besucht. Zu den in etwa gleichaltrigen Mitschülerinnen gehören neben ihrer 1893 geborenen Schwester Mathilde unter anderem Johanne Schwarting, Martha Timmermann, Bertha Tönjes und die Nachbarstochter Adele Wiedau. Im gleichen Geburtsjahrgang sind zudem Johann Haverkamp, Georg Sparke und Heinrich Tönjes.

Die ersten Schuljahre stehen für Henni unter keinem guten Stern. Mutter Anna Adeline stirbt im Dezember 1903, einen Tag vor Heiligabend. Die im Kirchenbuch der Gemeinde Hude genannte Todesursache „Brustkrankheit“ deutet auf Tuberkulose hin und somit auf einen längeren Leidensweg. Dass danach alle vier Kinder mit anpacken müssen, um den knapp 20 Hektar großen Familienbetrieb am Laufen zu halten, versteht sich von selbst. Die Hauptlast liegt dabei vermutlich zunächst auf den Schultern der beiden älteren Schwestern, die den Schwarting-Hof aber offenbar schon vor 1910 verlassen. Ein in jenem Jahr aufgenommenes Foto nämlich zeigt als dessen Bewohner lediglich Vater Martin Hermann, Henni und ihren zwei Jahre jüngeren Bruder Carl. Anna Schwarting heiratet später Diedrich Wieting aus Steinkimmen, Mathilde Schwarting Heinrich Egbers aus Dingstede.

Wann und bei welcher Gelegenheit aus Henni und ihrem künftigen Ehemann Gerhard Heinemann ein Paar wird, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Beide kennen sich vermutlich schon seit Kindertagen, denn der Hof von Gerhards Eltern (heute: Renate Heinemann) liegt vom Schwarting-Hof nur rund 750 Meter entfernt. Auf ihrem Weg zur Dorfschule ist Henni jahrelang zweimal täglich daran vorbeigelaufen – freilich ohne im Unterricht mit Gerhard viele Berührungspunkte zu haben, denn bei ihrer Einschulung 1901 steht er als 13-Jähriger bereits kurz vor der Entlassung.

Bevor Henni Gerhard am 21. November 1913 in der St.-Elisabeth-Kirche in Hude ihr Jawort gibt, muss sie einen weiteren Schicksalsschlag verkraften: Zu Beginn jenes Jahres, am 14. Januar, stirbt Vater Martin Hermann im Oldenburger Pius-Hospital an einer Lungenentzündung. Hoferbe Carl verpachtet daraufhin den Betrieb und geht nach der Hochzeit bei Henni und Schwager Gerhard in Stellung. Mit auf dem Heinemann-Hof leben zu diesem Zeitpunkt neben weiteren Bediensteten noch Hennis Schwiegervater Johann und dessen zweite Ehefrau Metta. Schon im Frühjahr 1914 zeichnet sich dann durch Hennis Schwangerschaft ab, dass in Kürze noch eine weitere Person hinzukommt.

Als Henni am 27. Oktober 1914 von Sohn Johann entbunden wird, ist die Welt um sie herum eine komplett andere als im Frühjahr. Denn drei Monate zuvor ist die „grundlegende Erschütterung“ eingetreten, vor der Otto von Bismarck 1894 unterschwellig gewarnt hatte: Das Deutsche Reich befindet sich nach der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajevo im Krieg mit gleich drei feindlichen Großmächten und muss – so zumindest die Sicht von Staats- und Militärführung – seine Errungenschaften „bis zum letzten Blutstropfen“ verteidigen.

Ob Gerhard Heinemann im Herbst 1914 bereits Kriegsdienst leistet, liegt heute im Dunkeln. Eine auf das Jahr 1915 datierte Aufnahme aus dem familieneigenen, von Henni bis zu ihrem Tod gehüteten und sorgsam beschrifteten Foto-Fundus zeigt ihn mit Kameraden einer Sanitäts-Kompanie, in der er offenbar für den Frontdienst ausgebildet wird. Abgesehen von kurzen Heimaturlauben dürfte Henni ihren Ehemann deshalb in jenen dunklen Jahren nur selten zu Gesicht bekommen, und sehr wahrscheinlich ist er auch bei der Geburt des zweiten Kindes Martha im März 1916 nicht zugegen. Da neben Gerhard auch Hennis Bruder Carl und weitere männliche Angestellte zur kaiserlichen Armee eingezogen wurden, bleibt ein Großteil der Arbeit auf dem Hof an Henni und ihren Schwiegereltern hängen.

Wie überall fordert der Krieg in Hurrel seinen Blutzoll. Bis Ende 1917 sind neun Todesopfer zu beklagen. So tragisch jeder einzelne Verlust ist – mit Hinrich Schweers hat es bis dato lediglich einen Familienvater getroffen. Doch so sehr Henni darauf hoffen mag, das Hinrichs Kindern zugedachte Schicksal einer Kriegswaise möge Johann und Martha erspart bleiben: Wenige Monate vor dem im November 1918 geschlossenen Waffenstillstand von Compiègne erreicht sie die Nachricht, dass auch Gerhard nicht von den Schlachtfeldern der Westfront zurückkehren wird. Die 1919 von den Siegermächten im Versailler Vertrag diktierte Abtretung von Elsaß-Lothringen und großer Teile der Provinzen Posen und Westpreußen dürfte für sie angesichts dieses Verlusts kaum mehr darstellen als eine Randnotiz.

Bei der Bewirtschaftung des Heinemann-Hofes steht Henni in den folgenden, vor allem durch die immer mehr Fahrt aufnehmende Geldentwertung geprägten Jahren weiter Schwiegervater Johann zur Seite, nicht jedoch Schwiegermutter Metta – sie stirbt im November 1922. Bruder Carl wiederum übernimmt nach seiner ein halbes Jahr zuvor mit Gesine Jürgens gefeierten Hochzeit einen eigentlich deren gefallenem Bruder zugedachten Hof in Vielstedt (heute: Lieschen Schwarting).

Einer relativ kurzen Phase politischer und wirtschaftlicher Stabilität folgen 1929 die Weltwirtschaftskrise und der dadurch bedingte Aufstieg der Nationalsozialisten. Als Reichspräsident Paul von Hindenburg im Januar 1933 NSDAP-Führer Adolf Hitler zum Kanzler ernennt, haben Hennis Kinder die Schule bereits abgeschlossen und sind auf dem Hof zu einer wichtigen Stütze geworden. Sie einigermaßen gut durch die „neue Zeit“ zu bekommen, dürfte in den folgenden Jahren Hennis wichtigstes Bestreben sein.

Ein legitimer Wunsch, auf den das Schicksal freilich wenig Rücksicht nimmt: Am 25. April 1939 stirbt Tochter Martha, inzwischen mit Adolf Nutzhorn aus Lintel verheiratet und wenige Tage zuvor Mutter geworden, in der Frauenklinik Oldenburg. Als Todesursache nennt das Huder Kirchenbuch Scharlach und „Lungenentzündung im Wochenbett“. Nur etwas mehr als vier Monate später beginnt mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg, woraufhin Sohn Johann einen Stellungsbefehl zur Wehrmacht erhält.

Da auch Adolf Nutzhorn Kriegsdienst leistet, kümmert sich Henni in den folgenden Jahren um Enkeltochter Lisa. Auf dem Hof ist Schwiegervater Johann, inzwischen 78 Jahre alt, nur noch bedingt eine Hilfe; er stirbt im Januar 1941. Unterstützung kommt außer von diversen Zwangsarbeitern von Nachbarin Ilse Asseln, Hennis künftiger Schwiegertochter. Sie und Johann heiraten während eines Fronturlaubs am 25. Januar 1944 – zu einem Zeitpunkt also, an dem die Propaganda-Parole vom bevorstehenden „Endsieg“ längst zur hohlen Phrase verkommen ist. Bis zur Einnahme Hurrels durch kanadische Truppen und der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht dauert es da noch 15 Monate. Immerhin: Anders als Ehemann Gerhard 27 Jahre zuvor übersteht Sohn Johann das Inferno lebend.

Die ersten Nachkriegsjahre bis zur Währungsreform sind für Henni wie für alle Hurreler – zu denen mittlerweile zahlreiche Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten gehören – eine schwierige Zeit. Nach der Rückkehr von Adolf Nutzhorn siedelt Enkelin Lisa zu ihrem Vater und dessen zweiter Ehefrau Erna nach Lintel über. Im Juni 1946 kommt dann in Gestalt von Johanns und Ilses Sohn Günter ein zweites Enkelkind hinzu, dem mit Hans und Erich noch zwei weitere folgen. Alle vier Enkelkinder in Frieden und mit wachsendem Wohlstand aufwachsen zu sehen, gehört für Henni sicher zu den positivsten Erfahrungen des nun folgenden Wirtschaftswunder-Jahrzehnts, das nach dem krebsbedingten Tod von Schwester Mathilde im Januar 1950 allerdings eher in Moll-Stimmung beginnt.

Obwohl sie den Hof offiziell schon 1948 an Johann und Ilse übergeben hat, arbeitet Henni auch im Rentenalter weiter in der Landwirtschaft mit. Von Kind auf an Disziplin und harte Arbeit gewöhnt, übernimmt sie bis ins hohe Alter bestimmte Aufgaben wie die Schweinefütterung und hält darüber hinaus Schwiegertochter Ilse im Haushalt den Rücken frei. Drei Jahre vor ihrem 70. Geburtstag wird sie mit der Geburt von Lisas Sohn Bernd Urgroßmutter, 1965 folgt mit Udo das zweite Urenkelkind.

Während die beiden jüngsten Enkel Hans und Erich den Heinemann-Hof in den folgenden Jahren verlassen, bereitet sich Günter auf die Nachfolge vor. Aus seiner im November 1972 geschlossenen Ehe mit Renate Meyer aus Tweelbäke gehen für Henni mit Bettina und Hergen zwei weitere Urenkelkinder hervor. Das fünfte und letzte Urenkelkind Thorsten steuert Erich – seit August 1976 mit Elga Ahlers aus Wardenburg verheiratet – bei.

Henni stirbt am 7. September 1979, nur knapp zwei Wochen vor ihrem 85. Geburtstag. Beerdigt ist sie fünf Tage später auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude.