Wilhelm Tuschar wird am 13. Juni 1913 in Gelsenkirchen geboren. Seine Eltern stammen Überlieferungen innerhalb der Familie zufolge aus Lothringen und hießen Tuschart, ursprünglich vielleicht auch Tuchard. Nachfahren von Wilhelms Geschwistern und anderen Verwandten leben heute unter anderem in Düsseldorf, Worpswede und Meerane.
Eine Woche vor Wilhelms Geburt treten im Deutschen Reich das Ruhrtalsperren-Gesetz und das Ruhrreinhaltungs-Gesetz in Kraft. Am selben Tag nimmt der genossenschaftlich organisierte Ruhrverband seine Arbeit auf. Er soll zum einen Kläranlagen und Talsperren errichten sowie zum anderen dafür sorgen, dass sich alle Wasser-Nutzer des Ruhrgebiets gleichermaßen an der Finanzierung beteiligen. Hinter allen drei Initiativen steht der in Mannheim geborene Bau-Ingenieur Karl Imhoff, seit 1906 Leiter des Abwasseramtes der Emscher-Genossenschaft und fortan im Nebenamt Geschäftsführer des Ruhrverbands.
Angesichts des massiven Bevölkerungswachstums und des stetig steigenden Bedarfs der boomenden Schwerindustrie herrscht im Ruhrgebiet schon seit Ende des 19. Jahrhunderts akuter Wasser-Notstand. Wie ernst die Lage ist, hat unter anderem der Dürre-Sommer 1911 deutlich gemacht. Angesichts wochenlanger Hitze trocknete die Ruhr, mit einer Länge von knapp 220 Kilometern wichtigste Lebensader der Region, an manchen Stellen fast völlig aus. Die wenigen Reste präsentierten sich als stinkende Kloake. „Das Wasser riecht nach Blausäure und nach Phenol-Verbindungen, es enthält keine Spur von Sauerstoff“ heißt es in einem in jenem Jahr erstellten Gutachten. Immer wieder kommt es deshalb zu Cholera– und Typhus-Ausbrüchen, zum Beispiel 1902 in Wilhelms Heimatstadt.
Gelsenkirchen ist ohnehin ein Musterbeispiel für das rasante Wachstum der Ruhrgebiets-Region seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Zählt die Stadt 1855 gerade einmal 1.000 Einwohner, sind es 1900 bereits 37.000 und in Wilhelms Geburtsjahr sogar 175.000. Als wahrer Bevölkerungs-Magnet erweist sich der Bergbau, der massenhaft Arbeiter anzieht – vor allem aus stark landwirtschaftlich geprägten Provinzen wie Ostpreußen, Westpreußen und Posen. Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es zudem zahlreiche Eingemeindungen, unter anderem von Schalke, Ückendorf und Bismarck.
In einem im Internet frei zugänglichen Adressbuch von 1898 findet sich für die damals noch selbstständige Gemeinde Schalke der Eintrag „Wilhelm Tuschart, Heßler 48“. Die dazugehörige Berufsbezeichnung lautet „Bergmann“. Möglicherweise handelt es sich dabei um Wilhelms Vater, vielleicht auch um seinen Großvater. Unter der gleichen Adresse gemeldet ist – ohne Angaben zum Beruf – Gottlieb Tuschart. Zur Familie gehört mit einiger Sicherheit auch Ernst Tuschart, der den ebenfalls online verfügbaren Verlustlisten des Ersten Weltkriegs zufolge aus Gelsenkirchen stammt und im Frühjahr 1915 schwer verwundet wird. Zehn Jahre später taucht dieser Name im Adressbuch der Stadt Plauen im Vogtland auf, 1950 noch einmal.
Genaueren Aufschluss über Wilhelms Herkunft könnten die Vor-Ort-Einträge im Kirchenbuch und im städtischen Geburtsregister geben. Diese Quellen sind aber für das Jahr 1913 noch nicht zur Einsicht freigeben. Doch selbst wenn sie eines Tages zur Verfügung stehen: Darüber, wie es Wilhelm als Kind in den entbehrungsreichen Kriegs- und Nachkriegsjahren ergeht, wie er Ruhrbesetzung und Hyperinflation erlebt, wann genau er Gelsenkirchen verlässt und warum plötzlich das Endungs-t aus seinem Nachnamen verschwindet, werden sie kaum berichten können.
Offen bleiben muss an dieser Stelle auch, unter welchen Umständen Wilhelm seinen Lebensmittelpunkt nach Oldenburg verlagert, wann er dort Wohnsitz an der Cloppenburger Straße nimmt und wie er seine künftige Ehefrau Henny Albers aus Hurrel kennenlernt. Beide heiraten am 22. Dezember 1934 in der Dreifaltigkeitskirche in Osternburg, rund 800 Meter von Wilhelms damaliger Wohnung entfernt. Wie der Termin unmittelbar vor Weihnachten erahnen lässt, drängt die Zeit: Henny ist hochschwanger und bringt Anfang 1935 eine Tochter zur Welt, die allerdings als Totgeburt namenlos bleibt.
Schon vor diesem tragischen Ereignis ist Wilhelm mit Henny nach Hurrel gezogen, und zwar auf den am Goehlweg gelegenen Hof seines Schwiegervaters Diedrich Albers (heutige Eigentümer: Alfred und Gisela Schmerdtmann). Von dort aus fährt er jeden Tag mit dem Fahrrad ins 35 Kilometer entfernte Nethen und baut in einer Sandgrube Kies ab. Schon bald wird Henny erneut schwanger, und beim zweiten Mal klappt es mit dem ersehnten Nachwuchs: Am 16. Mai 1936 kommt Tochter Erika zur Welt.
Plant Wilhelm, auf Dauer in Hurrel zu leben? Vermutlich eher nicht, dafür ist der Weg zu seiner Arbeitsstätte doch arg weit. Zudem muss er damit rechnen, dass Hennys als Hoferbe vorgesehener Bruder Johann – bei Erikas Geburt 16 Jahre alt – über kurz oder lang eine eigene Familie gründen und entsprechend Platz beanspruchen wird. Doch noch bevor Wilhelm in der Wohnort-Frage eine Entscheidung treffen kann, nehmen ihm die äußeren Umstände das Heft des Handelns aus der Hand. Am 1. September 1939 beginnt – provoziert von den seit Anfang 1933 in Deutschland regierenden Nationalsozialisten – der Zweite Weltkrieg. Unmittelbar darauf erhält Wilhelm seinen Stellungsbefehl zur Wehrmacht.
Als im August 1942 Schwager Johann in Russland fällt, muss Wilhelm kurz zuvor selbst verwundet worden sein, denn er wird in der Traueranzeige als Mitglied einer Genesungs-Kompanie genannt. Sieben Monate später wird er noch einmal Vater: Am 21. März 1943 macht Sohn Dieter die Familie komplett. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Wilhelm aber vermutlich bereits längst wieder an der Front. Sein letzter bekannter Aufenthaltsort ist Lettland, wo er am 26. Februar 1945 östlich von Libau den heftigen, in den Geschichtsbüchern als Fünfte Kurland-Schlacht geführten Kämpfen mit der Roten Armee zum Opfer fällt. Wo er anschließend seine letzte Ruhestätte findet, lässt sich mehr als 70 Jahre später nicht mehr rekonstruieren.