… von Egon Wachtendorf
Aufgezeichnet im Februar 2018
Meine frühesten Erinnerungen an meinen ehemaligen Nachbarn Hans Meyer gelten nicht unbedingt ihm selbst, sondern eher dem Haus, das er 1973 gekauft hat. Und seiner langjährigen Hündin Josefine, genannt Fine. Aber zuerst zum Haus. Ich wusste schon von früher Kindheit an, dass es das Geburtshaus meiner im Oktober 1973 verstorbenen Urgroßmutter Frieda Barkemeyer ist. Und dass es zu diesem Haus (heute: Birgit Ganteföhr) viele traurige Geschichten zu erzählen gibt. Etwa jene von den vier als Säugling verstorbenen Kindern meiner Ur-Urgroßmutter Anna Rüdebusch. Oder die von Annas drei Enkelsöhnen, die alle im Zweiten Weltkrieg gefallen sind. Kurzum: Das „Haus op dem Brink“ war für mich immer ein besonderer Ort.
Wann genau ich die erste Begegnung mit Fine hatte, weiß ich nicht mehr so genau. Es könnte 1975 gewesen sein, vielleicht auch erst Anfang 1976. Zu jener Zeit besuchte ich die Orientierungsstufe in Hude und fuhr jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Bushaltestelle am Brink, die an den ehemaligen Rüdebusch-Hof grenzt. Dort habe ich Fine häufig herumlaufen sehen. Sie war eine Mischlingshündin, in deren Stammbaum sich auch ein Boxer verewigt hatte. Weil ich diese Rasse nicht sonderlich mochte, war Fine mir nicht ganz geheuer. Man könnte auch sagen: Ich hatte Angst vor ihr.
Damals gab es direkt neben der Haltestelle noch den alten Luftschutz-Bunker. Dort tauchten wir Dorfkinder vor der Ankunft des Busses häufig für einige Minuten ab. Das war immer ein wenig gruselig – je weiter man hineinging, desto dunkler wurde es. Eines Morgens hatte ich mich ziemlich weit vorgewagt, als ich es hinter mir plötzlich rascheln hörte. Es war, wie sich nach einigen Schritten zurück Richtung Ausgang schnell herausstellte, keines der anderen Kinder. Es war Fine. Ich bekam einen Riesenschreck. Obwohl sie mich weder böse anknurrte noch sonst irgendwie bedrohlich wirkte, dauerte es eine Weile, bis ich mich ganz vorsichtig an ihr vorbei wieder ans Tageslicht traute.
Bald darauf lernte ich Fine – und natürlich auch Hans, seine Frau Meta und Sohn Uli – näher kennen. Meistens war es Hans, der einmal in der Woche mit Fine auf unseren Hof kam und frische Eier holte. Dabei stellte sich irgendwann heraus, dass wir gemeinsame Bekannte in Bremen hatten: Helmut und Marga Falldorf, die regelmäßig meinen Großonkel Karl Barkemeyer besuchten.
Im Sommer 1977 hatte ich mir in den Kopf gesetzt, dass ich unbedingt einen eigenen Hund haben wollte. Fine war trächtig, und da bot sich natürlich einer der bald darauf geborenen Welpen an. Es waren zwei: Gesine und Thoelke. Letzterer hieß so, weil er genauso aussah wie Wum, der Zeichentrickhund aus dem „Großen Preis“ mit Wim Thoelke. Wenn Hans nach Thoelke rief, tat er dies im gleichen Tonfall wie Wum in der angesprochenen Sendung, mit langgestrecktem ö: „Thöööölke“. Das amüsierte ihn jedes Mal sichtlich.
Nach der Geburt von Gesine und Thoelke ging ich nahezu jeden Nachmittag bei Meyers vorbei, und ich quengelte so lange bei meinen Eltern, bis sie endlich „Ja“ sagten zum eigenen Hund. Genau genommen sagten sie „Ja, aber“, denn eine Hündin, die selbst irgendwann trächtig werden konnte, wollten sie auf keinen Fall. Also blieb nur Thoelke, obwohl Gesine deutlich anhänglicher und irgendwie knuffiger war. Gesine kam dann in eine andere Familie und wurde leider bald von einem Auto überfahren. Thoelke ist immerhin elf Jahre alt geworden und hat Hans und Fine, solange sie zusammen bei uns Eier holten, stets aufs Neue begrüßt – mal ganz brav und artig, mal eher ungestüm.
Thoelke (links) mit Mutter Josefine (Aufnahme um 1980)
In den beiden folgenden Jahren war Hans im Sommer häufig bei uns zu Gast und half beim Umbau des Viehstalls und der Errichtung eines Güllekanals. Solange er noch eingermaßen sehen konnte, half er viel in der Nachbarschaft, und obwohl er kein gelernter Maurer oder Zimmermann war, ging er dabei in meiner Erinnerung sehr geschickt zu Werke. Mir, der bis heute keinen Nagel gerade in die Wand bekommt, hat das damals sehr imponiert. Begleitet wurde Hans meist von Bernd König, der zu jener Zeit bei ihm und Meta wohnte.
Politisch war Hans, wie bei einem waschechten Bremer auch kaum anders zu erwarten, eher linksgerichtet – ohne dabei jedoch seine Meinung allzu sehr aus dem Fenster zu hängen und mit missionarischem Eifer zu versuchen, Andersdenkende zu belehren oder gar zu bekehren. Nur einmal habe ich ihn anders erlebt. Als Hans im Frühjahr 1981 bei uns zu Haus auf Eric Janzen traf, den zu Besuch bei seinen Großeltern weilenden Sohn des Amerika-Auswanderers Heinz Janzen, konnte er es sich nicht verkneifen, Eric mit den energisch vorgetragenen Worten „When you come home, tell your new president that I don’t like him!“ zu verabschieden. Ein nicht sehr diplomatischer und bei einem Zehnjährigen auch etwas deplatziert wirkender Gruß an Ronald Reagan, der ihm aber an dieser Stelle verziehen sein möge.
Eine große Hilfe war Hans mir stets, wenn ich für den Schulunterricht am Graf-Anton-Günther-Gymnasium Materialien benötigte. Internet? Gab es damals nicht. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich in der zehnten Klasse einmal in Kunst eine Abhandlung über Arnold Böcklin und dessen berühmtes Gemälde „Die Toteninsel“ verfassen musste. Ich hatte absolut keinen Plan, wie ich die Sache angehen sollte. Daraufhin ließ Hans mich in seiner auf einer Empore eingerichteten Bibliothek, die man vom Wohnzimmer aus mit einer kleinen Leiter erreichte, stöbern und hatte auch sonst die eine oder andere nützliche Information parat, auf die ich von alleine nie gekommen wäre.
Wenn ich Hans bei einer dieser Gelegenheiten besuchte, saß er meist im Wohnzimmer und lauschte einem der auf Band mitgeschnittenen oder nachträglich beim Sender angeforderten Features von Radio Bremen. Nach dem Verlust seiner Sehkraft war dies für ihn die effektivste Möglichkeit, an der Welt um ihn herum teilzuhaben. Daneben hörte er auch viel Musik, bevorzugt Jazz und Swing aus den 30er und 40er Jahren. Noch ein Detail, das mir von diesen Besuchen im Gedächtnis geblieben ist: An der niedrigen Eingangstür, die vom Garten direkt in sein Wohnzimmer führte, habe ich mir mehr als einmal den Kopf gestoßen.
Das Thema Kunst konnte man mit Hans lang und breit diskutieren – wenn man denn das nötige Rüstzeug dafür besaß. Bei mir war das eher nicht der Fall, weshalb die Gespräche meist rasch in eine andere Richtung wechselten. Hängen geblieben ist bei mir allerdings die anhand einer Zeichnung von Pablo Picasso erläuterte Aussage, dass erst das Stilmittel der Verfremdung ein Bild zur Kunst erhebe. Dazu hatte sein gestochen scharf und fast fotorealistisch malender Nachbar Werner Ganteföhr vermutlich eine ganz andere Meinung.
Dass ich der Falsche war und bin, um in diesem Disput Position zu beziehen, mag eine andere Anekdote verdeutlichen. Im Januar 1986 sind meine damalige Freundin Brigitta Klockgießer und ich mit Hans in die Kunsthalle Bremen gefahren, weil er unbedingt eine dort gezeigte Ausstellung über Paula Modersohn-Becker sehen wollte. Hans hat sich vor Ort wirklich viel Mühe gegeben, uns die ausgestellten Werke und die Bedeutung der Künstlerkolonie Worpswede näherzubringen. Doch woran erinnere ich mich heute, wenn ich an diesen Nachmittag zurückdenke? An den Geschmack von Ingwer-Stäbchen. Die hatte ich vor Fahrtantritt bei Hans zum ersten Mal in meinem Leben gegessen.
Ein halbes Jahr später bin ich berufsbedingt von Hurrel nach Wiesbaden gezogen, später dann nach Mainz. In dieser Zeit habe ich Hans nur selten zu Gesicht bekommen. Kurz vor Weihnachten 1990 hatte ich einen Globetrotter aus Moskau zu Besuch, mit dem ich Hans eigentlich einen Besuch abstatten wollte – schließlich hatte er mir einmal erzählt, dass er im Zweiten Weltkrieg lange in Russland gewesen ist. Damals ging es Meta jedoch sehr schlecht und aus dem Termin wurde nichts. Als Meta im März 1991 gestorben ist, hatte ich gerade eine neue Stelle in Düsseldorf angetreten.
Im September 1992 waren meine Eltern in Urlaub, ich habe in dieser Zeit zusammen mit meinem Bruder Jürgen eine Woche lang zu Hause den Hof geführt. An einem Abend haben meine Frau Elke und ich Hans spontan zum Essen eingeladen, meine Oma Henny Wilkens war auch dabei. Hans und Henny haben viel von früheren Zeiten erzählt, sehr schnell landeten wir jedoch bei aktuellen Themen wie dem gerade begonnenen Jugoslawien-Krieg. Hans war sehr bedrückt darüber, weil er viele der Orte, über die in den Nachrichten nahezu täglich Grausiges berichtet wurde, während seiner diversen Urlaube in die Region selbst besucht und dort die eine oder andere Bekanntschaft geschlossen hatte. Warum lernt die Menschheit nicht aus den Katastrophen der Vergangenheit, lautete eines der zentralen Rätsel dieses Abends. Wir haben es aber auch nicht gelöst bekommen.
Wann ich Hans vor seinem Tod das letzte Mal gesehen habe, weiß ich leider nicht mehr genau. Als Uli Ostern 1997 den Haushalt in Hurrel aufgelöst hat, sind einige der Bücher aus jener Bibliothek, vor der ich 16 Jahre zuvor auf der Suche nach Informationen über Böcklins „Toteninsel“ so bewundernd gestanden bin, bei mir gelandet, zusammen mit einem Tisch und einem Sideboard aus Hans‘ und Metas Wohnzimmer. Beide Möbelstücke haben seither ihren festen Platz in unserem Haus an der Hurreler Straße und halten die Erinnerung an zwei besondere Menschen wach.