Leo Jung – Biographie

Leo Edmund Ludwig Jung wird am 20. September 1885 als eines von sieben Kindern von Conrad Jung und Katharina Jung in Essen geboren. Seine seit 1871 miteinander verheirateten Eltern betreiben in der Ruhrgebiets-Metropole ein kleines Hotel. Dieses existiert im Stadtteil Rüttenscheid noch heute unter dem Namen Hotel Jung, befindet sich aber nicht mehr in Familienbesitz.

Fünf Tage vor Leos Geburt kommt bei einem tragischen Unfall Jumbo ums Leben, der wohl bekannteste Zoo- und Zirkus-Elefant aller Zeiten. Er wird auf dem Bahnhof von St. Thomas in der kanadischen Provinz Ontario bei einer Umlade-Aktion von der Lokomotive eines vorbeifahrenden Güterzuges erfasst. Angeblich soll der Stationsvorsteher von Jumbos Anblick so erstaunt gewesen sein, dass er es versäumt hatte, eine Weiche umzustellen. Bei der Kollision stirbt neben dem Elefanten auch der Lokomotivführer.

Jumbo war mit dem Wanderzirkus von Phineas Barnum unterwegs, der ihn Anfang 1882 dem Londoner Zoo für die damals enorm hohe Summe von 10.000 US-Dollar abgekauft hatte. Schon in London galt der 1861 als Jungtier in Abessinien gefangene Elefant als Attraktion par excellence – war er doch einer der ersten afrikanischen Elefanten überhaupt in Europa und zudem mit einer Schulterhöhe von fast vier Meter selbst für seine Spezies ungewöhnlich groß.

Der Zoo nutzte Jumbo 16 Jahre lang, um Kinder auf ihm reiten zu lassen. Mehrere hunderttausend sollen es gewesen sein, darunter der junge Winston Churchill und der spätere US-Präsident Theodore Roosevelt. Nachdem der Elefant 1881 mit Beginn der Geschlechtsreife zunehmend Launen zeigte, war dies allerdings zu gefährlich geworden. Trotzdem löste die Verkaufsmeldung in Großbritannien einen Schrei der Entrüstung aus. Bei der Ankunft in New York im April 1882 wiederum jubelten Jumbo tausende Schaulustige zu. Auch die sich anschließende Tournee durch die USA und Kanada zog die Massen an. Barnum soll damit in nur dreieinhalb Jahren eine halbe Million Dollar verdient haben.

Mit dem ausgestopften Jumbo und der ebenfalls in London gekauften Elefantendame Alice geht Barnum nach dem Unglück weiter auf Tour, wobei er Alice als „trauernde Witwe“ vermarktet. Vier Jahre später bekommt Jumbo dann einen Dauerplatz im Barnum Museum of Natural History der privaten Tufts University in Medford bei Boston. Dort steigt er bald zum Maskottchen der Studenten auf.

Dass Leo als Kind oder Jugendlicher anders als in späteren Jahren einen leibhaftigen Elefanten zu Gesicht bekommt, ist eher unwahrscheinlich: Einen größeren Tiergarten gibt es Ende des 19. Jahrhunderts in seiner Heimatstadt noch nicht, ebenso wenig wie im gesamten Ruhrgebiet. Doch vielleicht unternimmt er als Volksschüler oder später als Gymnasiast einen Ausflug in den 1860 eröffneten Kölner Zoo, der von Beginn an Elefanten hält. Und möglicherweise gibt es ja im „Hotel Jung“ den einen oder anderen weitgereisten Gast, der ihm von der Begegnung mit einem solch außergewöhnlichen Geschöpf erzählt.

Im Mai 1903 stirbt Leos Vater – was vermutlich zur Folge hat, dass Leo noch stärker in den täglichen Arbeitsablauf des Familienbetriebs eingespannt wird als in den Jahren zuvor schon. Seine eigenen beruflichen Ambitionen gehen derweil in eine ganz andere Richtung: Er entscheidet sich, Landwirtschaft zu studieren. Ob dahinter bereits der konkrete Wunsch steht, später in eine der afrikanischen Kolonien des Deutschen Reiches auszuwandern, ist nicht überliefert. Fest steht nur, dass Leo nach Abschluss seines Studiums genau diesen Schritt tut: Zusammen mit seiner Schwester Maria Lepetit und deren Ehemann schifft er sich 1907 in Deutsch-Ostafrika ein.

Während Maria und ihr Ehemann in Tanga das Hotel „Deutscher Kaiser“ eröffnen, zieht Leo in die 450 Kilometer weiter südlich liegende Stadt Kilwa. Dort widmet er sich als einer von damals rund 900 deutschen Ostafrika-Siedlern der Gewinnung von Kautschuk und der Kultivierung der erst zwei Jahrzehnte zuvor aus Mexiko eingeführten Sisal-Agave.

Als es scheint, dass sich alle drei Auswanderer in der neuen Heimat etabliert haben, schlägt das Schicksal gleich mehrfach zu. Sowohl Leo als auch Marias Ehemann und deren zweijähriger Sohn erkranken am von Sandmücken übertragenen Schwarzen Fieber, was die beiden Letztgenannten das Leben kostet. Daraufhin kehrt Maria nach Deutschland zurück. Nur wenige Jahre später besiegelt die Niederlage des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg das Ende der deutschen Kolonien: Leo wird zunächst von den Briten interniert und muss anschließend ebenfalls das Land verlassen.

Das Leben in einer Großstadt wie Essen, wo Leo ab 1921 kurzzeitig wieder lebt, behagt ihm nicht, und er sieht sich nach Alternativen um. Durch Zufall erfährt er von seinem ehemaligen, aus Schwei in der Wesermarsch stammenden Studienkollegen Johann Hennings, dass in Hurrel ein während des Krieges von Lucas Pannenborg bewirtschafteter Hof (heute: Constanze Fechner-Jung) zum Verkauf steht. Kurz bevor die sich immer schneller drehende Inflationsspirale ihren Höhepunkt erreicht, wird sich Leo mit dem Besitzer Eduard Menke – hauptberuflich Weinhändler in Bremen – einig, so dass er am 6. Juli 1923 sein neues, zunächst noch von Heinrich Kück und dessen Familie gepachtetes Zuhause am Hesterort beziehen kann.

Kaum angekommen, geht Leo in gewohnter Pionier-Manier daran, das zum Hof gehörende Land urbar zu machen. Da er einen Teil der für den Verlust seines Besitzes in Ostafrika erhaltenen Entschädigungszahlung über die Hyperinflation retten kann, kauft er sogar noch etwas Land hinzu. Auch privat geht es für ihn voran: Im August 1924 heiratet Leo Margaretha Lüning aus Oldenburg, im Juli des folgenden Jahres kommen die Zwillinge Conrad und Eva-Maria zur Welt.

Ende der 20er Jahre bekommt Leo gesundheitliche Probleme – womöglich eine Spätfolge des Schwarzen Fiebers, mit dem er sich in Ostafrika infiziert hat. Vor allem das Herz macht ihm zu schaffen. Kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verpachtet er deshalb den Hof an Hinrich Segelken und zieht mit Margarete und den beiden Kindern in ein zuvor auf dem Grundstück neu errichtetes Wohnhaus. Seinen Lebensunterhalt verdient er ab 1934 als Angestellter der Landwirtschaftskammer in Oldenburg. Dort erlebt er die folgenden, von Diktatur, erneutem Weltkrieg und Nachkriegs-Not geprägten Jahre, die in seiner Familie glücklicherweise keine Opfer fordern. Sohn Conrad kehrt allerdings erst 1947 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück.

Im September 1950 geht Leo nach 16 Jahren bei der Landwirtschaftskammer in Ruhestand. Diese letzte Lebensphase noch länger als einige Jahre zu genießen, ist ihm nicht vergönnt: Leo stirbt am 4. Juni 1953 und wird einige Tage später auf dem Gertrudenfriedhof in Oldenburg beerdigt.