Karla Mehrings – Biographie

Karla Elise Mehrings wird am 20. Februar 1914 als viertes Kind von Heinrich Meyer und Meta Meyer auf dem elterlichen, heute nicht mehr bestehenden Hof in Kirchhatten geboren. Sie ist die jüngere Schwester von Fritz Meyer, Anni von Husen und Marianne Meyer und die ältere Schwester von Herbert Meyer.

Einen Tag nach Karlas Geburt trifft eine albanische Delegation unter Führung von Kriegsminister Essad Pascha Toptani in Neuwied bei Koblenz ein, um dort Prinz Wilhelm zu Wied offiziell die Fürstenkrone des Landes anzubieten. Vorausgegangen ist ein monatelanges Tauziehen. Als Albanien im November 1912 seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erklärt, wird es sofort mit Gebietsforderungen seiner Nachbarn traktiert, allen voran von Serbien und Griechenland. Um Ruhe zu schaffen, stellen die sechs europäischen Großmächte Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien und Russland den neuen Staat unter ihren Schutz – ohne selbst einig zu sein, welche Grenzen er haben und wer dort regieren soll.

Klar ist zunächst nur, wer nicht als Staatsoberhaupt in Frage kommt. Ein Albaner scheidet aus, da sich die untereinander teils heillos zerstrittenen Stämme und Volksgruppen des Landes nie auf einen gemeinsamen Kandidaten würden einigen können. Aus ähnlichen Gründen darf es auch kein Katholik, Muslim oder orthodoxer Christ sein. Desgleichen kein Russe, Serbe, Grieche oder Österreicher, denn alle diese Staaten verfolgen eigene Interessen auf dem Balkan. So fällt die Wahl am Ende auf den deutschen Protestanten Wilhelm zu Wied. Dieser akzeptiert, obwohl Kaiser Wilhelm II. den Prinzen der Überlieferung zufolge mit den Worten „Dass du mir ja nicht auf den Unsinn mit Albanien hereinfällst!“ gewarnt haben soll.

Tatsächlich ist Wilhelms Regentschaft nur von kurzer Dauer. Zwar wird er am 7. März 1914 nach seiner Ankunft in der provisorischen Hauptstadt Durrës freundlich empfangen. Schon wenige Monate später regiert jedoch das blanke Chaos: Im Süden bedrohen griechische Freischärler die Einheit des Landes, Kriegsminister Toptani bereitet einen Putsch vor und aufständische Bauern belagern die Hauptstadt. Hilfe von den europäischen Schutzmächten hat Wilhelm spätestens ab Ende Juni nicht mehr zu erwarten – diese steuern nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajevo nahezu ungebremst auf den Ersten Weltkrieg zu und bereiten die Mobilmachung vor. Am 3. September 1914 schließlich verlässt Wilhelm Albanien an Bord eines italienischen Schiffes, um auf deutscher Seite am Krieg teilzunehmen.

Aus der Gemeinde Hatten leisten der „Hatter Bilder-Chronik“ von Wolfgang Martens zufolge zwischen 1914 und 1918 rund 600 Männer Militärdienst. Ob Karlas Vater dazugehört, ist heute in der Familie nicht mehr bekannt. Falls ja, kehrt er jedoch unversehrt nach Hause zurück und bewirtschaftet weiter seinen an der Dingsteder Straße gelegenen Hof. Dort wächst Karla mit ihren Geschwistern auf und besucht sehr wahrscheinlich ab 1920 die in unmittelbarer Nähe gelegene Volksschule Hatten-Ost.

In den folgenden Jahren erlebt Karla die sich Ende 1923 zur Hyperinflation steigernde Geldentwertung, die nach einer kurzen Erholung einsetzende Weltwirtschaftskrise und Anfang 1933 die Machtergreifung der im Freistaat Oldenburg schon seit Mai 1932 mit absoluter Mehrheit regierenden Nationalsozialisten. Als Karla im Februar 1934 das für eine Teilnahme an Wahlen vorgeschriebene Mindestalter von 20 Jahren erreicht, ist die NSDAP bereits Staatspartei – bei der Reichstagswahl vom 29. März 1936 erreicht sie einen Stimmenanteil von 98,8 Prozent.

Zu diesem Zeitpunkt ist Karla schon beim Kirchhatter Bäckermeister Johann Helms in Stellung. Ebenso ihr künftiger Ehemann Otto Mehrings, der dort als Geselle arbeitet. Karla und Otto heiraten im Februar 1937, sechzehn Monate vor der Geburt der gemeinsamen Tochter Lore. Otto, der inzwischen seinen Meisterbrief in der Tasche hat und sich baldmöglichst mit einem eigenen Betrieb selbstständig machen möchte, pachtet im Oktober 1938 nach kurzer Probezeit die Bäckerei von Reinhard Asseln in Hurrel, zu der auch ein Laden und eine Gaststätte gehören (heute: Hajo und Dagmar Mehrings). Noch im selben Monat ziehen auch Karla und Lore nach Hurrel.

Die folgenden Monate sind geprägt von Umbauarbeiten: Die junge Familie richtet sich im neuen Zuhause ein, parallel entsteht an Stelle der alten Diele eine eigene Wohnung für Reinhard und Adele Asseln. Karla ist derweil wieder schwanger, am 6. August 1939 kommt Sohn Bodo zur Welt. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Kaum mit Bodo aus dem Krankenhaus zurückgekehrt, muss Karla sich von Otto verabschieden – auf dem Tisch liegt ein Stellungsbefehl zur seit 1935 massiv ausgebauten Wehrmacht. Der Hintergrund für die plötzliche Einberufung wird bald klar: Am 1. September 1939 beginnt mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg.

Von einem Tag auf den anderen steht Karla mit Bäckerei, Laden, Gastwirtschaft und zwei kleinen Kindern allein. Wobei sie sich glücklicherweise auf ihr Umfeld verlassen kann: In der Backstube nimmt Reinhard Asseln trotz gesundheitlicher Probleme ganz selbstverständlich wieder jenen Posten ein, den er schon bis Herbst 1938 über Jahrzehnte innehatte, und im Laden gehen Karla neben Adele Asseln auch ihre Eltern und Schwester Anni von Husen zur Hand. In der Gastwirtschaft wiederum ruht der Betrieb von wenigen Ausnahmen abgesehen nahezu den gesamten Krieg über.

Zunächst eilt die Wehrmacht von Erfolg zu Erfolg: Dem Sieg in Polen folgen schon bald die Besetzung Dänemarks und Norwegens, die Kapitulation Frankreichs und – nach dem Überfall auf die Sowjetunion – große Geländegewinne im Osten. Je länger der Krieg dauert, desto länger wird jedoch ebenfalls die Liste der Gefallenen und Vermissten, zu denen seit August 1941 auch Karlas Bruder Fritz gehört. Gibt es in Hurrel bis Ende 1941 mit Heinrich Wiese, Gustav Drieling und Arthur Pape nur drei Kriegsopfer zu beklagen, so steigt ihre Zahl bis zur bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945 auf 25. Da der Gasthof Mehrings über Hurrels einzigen öffentlichen Telefonanschluss verfügt und dort auch Telegramme eingehen, landet die Nachricht über jeden neuen Todesfall in der Regel zuerst bei Karla. Immerhin, Ottos Name taucht in diesen Mitteilungen bis zum Schluss nicht auf.

Die Ereignisse des Frühjahrs 1945 werden Karla sicher auf ewig im Gedächtnis bleiben. In Kirchhatten toben erbitterte Kämpfe zwischen den wider jede Vernunft agierenden Verteidigern und den vorrückenden kanadischen Truppen, bei denen aber niemand aus Karlas Familie zu Schaden kommt. Fast zeitgleich wird auch Hurrel von den Kanadiern eingenommen. Angesichts der zentralen Lage bezieht ein Teil der Besatzungstruppen in der Gastwirtschaft Quartier, so dass Karla mit Lore und Bodo vorübergehend auf dem elterlichen Hof in Kirchhatten Zuflucht sucht. Einige Tage nach Kriegsende macht sich Vater Heinrich zu Fuß auf den Weg nach Hurrel, um im Laden und in der Bäckerei nach dem Rechten zu sehen. Dort kommt er zwar an, am nächsten Morgen wird er jedoch kurz vor Dingstede erschlagen aufgefunden. Die näheren Umstände seines Todes bleiben ungeklärt.

Als Karla mit den Kindern nach Hurrel zurückkehrt, ist der Dachstuhl der neben der Gaststätte stehenden Scheune ausgebrannt – dort hatten die inzwischen abgezogenen Besatzer ein später außer Kontrolle geratendes Feuer entzündet. Wohnhaus, Laden und vor allem die Backstube sind jedoch intakt. Irgendwann in den folgenden Monaten trifft auch Otto, wenngleich gesundheitlich stark angeschlagen, zu Hause ein. Der Betrieb kann also ganz allmählich wieder anlaufen. Wobei im Chaos der ersten Nachkriegsjahre an Geldverdienen kaum zu denken ist. Wie überall im Land dominieren Tauschgeschäfte: Roggen gegen Brot, Eier und Milch gegen Mehl, Zucker und andere Dinge des täglichen Bedarfs. Über allem stehen der Wille und der Zwang, irgendwie über die Runden zu kommen, bei alteingesessenen Dorfbewohnern ebenso wie bei den notdürftig einquartierten Flüchtlingen aus den verlorenen Ostgebieten.

Spätestens mit der Währungsreform im Juni 1948 normalisiert sich jedoch die Lage. Außer in Bäckerei und Laden herrscht auch in der Gastwirtschaft mit jedem Jahr stärker Betrieb: Hochzeiten, Tanzveranstaltungen und nicht zuletzt das ab 1950 immer am letzten Juli-Wochenende gefeierte Schützenfest sorgen für stetig steigende Umsätze. Was Karla und Otto natürlich freut, sie aber auch manche Stunde Schlaf kostet. Denn egal, wann der letzte Gast abends das Haus verlässt – am nächsten Morgen heißt es für beide lange vor Sonnenaufgang wieder aufstehen, den Backofen anheizen und die neue Arbeitsschicht in Angriff nehmen.

Während Otto zusammen mit Bodo und dem jeweiligen Lehrling für Nachschub aus der Backstube sorgt, kümmert sich Karla um den Laden. Dort herrscht insbesondere donnerstags Hochbetrieb, denn dann liefern die umliegenden Bauern Eier an. Den ganzen Tag über sortiert Karla mit Lore eine Korbfüllung nach der anderen in große Holzkisten, immer 100 Eier pro Lage und fünf Lagen pro Kiste. Anschließend beginnt das große Rechnen: Wer hat in der vergangenen Woche für wie viel Geld Waren eingekauft, welche Summe bleibt nach Abzug dieses Betrags zu zahlen? Dass nebenbei noch die Familie mit einem warmen Mittagessen versorgt und mindestens ein Dutzend anderer keinen Aufschub duldender Dinge erledigt werden muss, versteht sich von selbst.

Als sich Otto 1955 erfolgreich für die örtliche Postagentur bewirbt, gibt es von der täglichen Briefzustellung bis hin zur monatlichen Rentenauszahlung noch mehr zu tun. Ersteres erledigt Lore mit Hilfe von Artur Sanders aus Dingstede – er wird im Oktober 1956 Karlas Schwiegersohn. Drei Monate später kommt ihr erstes Enkelkind Uwe zur Welt, dem im November 1960 Enkeltochter Meike folgt. Beide lernen im Gasthof Mehrings Laufen und Sprechen, wobei sie sich meist auf einer Baustelle bewegen: Nachdem Otto und Karla den bislang nur gepachteten Betrieb 1957 gekauft haben, errichtet Artur mit seinem Vater Diedrich Sanders auf dem Grundstück nebenan ein Altenteiler-Haus für Reinhard und Adele Asseln. Darauf folgt eine umfangreiche Modernisierung, die sich bei durchgehend weiterlaufendem Geschäft bis Anfang 1962 hinzieht. Direkt im Anschluss feiern Karla und Otto mit Verwandten, Nachbarn und Freunden im renovierten Saal Silberhochzeit.

Von da bis zur nächsten Hochzeit im Familienkreis ist es nicht mehr allzu lange hin: Am 25. Februar 1964 heiratet Bodo Ursel Dählmann aus Lintel. Einige Wochen zuvor hat Lore mit Artur, Uwe und Meike ein neu errichtetes Eigenheim in Dingstede bezogen. Auf Kinderstimmen im Haus muss Karla dennoch nicht verzichten: Mit Hille (Dezember 1965) und Hajo (Mai 1968) kommen zwei weitere Enkel aus Bodos Ehe hinzu.

Knapp vier Wochen nach Hajos Geburt feiert Otto seinen 63. Geburtstag – was ihn angesichts nach wie vor angeschlagener Gesundheit und der Tatsache, dass Bodo bereits im Herbst 1965 die Bäcker-Meisterprüfung mit „Gut“ bestanden hat, an den Ruhestand denken lässt. Karla ist zwar erst 54, hat aber gegen eine etwas ruhigere Gangart ebenfalls nichts einzuwenden. So gönnen sich die beiden die ersten Urlaube, die sie in den Harz und ins Sauerland führen. Ein weiterer Harz-Urlaub im August 1971 endet allerdings in einer Tragödie: Otto kehrt mit lebensbedrohlichen Darmblutungen stark geschwächt zurück, er stirbt am 11. September 1971 im Evangelischen Krankenhaus in Oldenburg. Karla ist mit 57 Jahren Witwe.

Obwohl in Bäckerei, Laden und Gastwirtschaft inzwischen Bodo und Ursel in der ersten Reihe stehen, gibt es dort für Karla in den nächsten zweieinhalb Jahrzehnten noch immer Arbeit genug. Wer den in den 70er und 80er Jahren noch mehrfach umgestalteten Verkaufsraum betritt, wird fast immer von ihr bedient – am frühen Morgen ebenso wie am späten Nachmittag. Mit Fahrer Alfred Wübbeler organisiert sie den Außer-Haus-Verkauf, und für die Enkel Hille und Hajo ist sie bis zur Konfirmation und darüber hinaus erste Ansprechperson, wenn es bei den Eltern wieder einmal besonders stressig zugeht. Daneben bleibt aber auch Zeit für entspannte und gesellige Stunden, zum Beispiel im Kreise ihrer Kegelschwestern vom Club „Zur fröhlichen Runde“. Mit von der Partie sind dabei unter anderem Ilse Heinemann, Gretchen Janzen, Anni Meyer, Hanna Münstermann, Mariechen Röben und Martha Wachtendorf.

Die 80er Jahre enden für Karla mit diversen Familienfesten: Hille heiratet im Sommer 1987 Harald Jürgens aus Wardenburg, Hajo ein knappes Jahr später Dagmar Tönjes aus Wüsting. Daneben gibt es im Oktober 1988 das 50-jährige Betriebsjubiläum zu feiern und vier Monate später die Silberhochzeit von Bodo und Ursel. Zudem sieht Karla in den 90ern mit Lars, Dennis, Carina, Yvonne, René, Tobias und Marina insgesamt sieben Urenkelkinder aufwachsen. Das Ende des Jahrzehnts erlebt sie allerdings nicht mehr: Karla stirbt am 13. Juni 1999 im Alter von 85 Jahren und wird vier Tage später in Hude auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche beerdigt.