Gerhard Wieting – Biographie

Gerhard Wieting wird am 11. Januar 1868 als erstes Kind von Johann Hinrich Wieting und Anna Maria Wieting auf dem elterlichen Hof in Steinkimmen (heute: Lutz Wieting) geboren. Er ist der ältere Bruder von Metta Strodthoff, Heinrich Wieting, Catharina Elise Grashorn und Diedrich Wieting.

In den Wochen vor Gerhards Geburt eskaliert in den USA der Streit über die Amtsführung von Präsident Andrew Johnson. Der ohne Wahl an die Macht gekommene Nachfolger des 1865 ermordeten Präsidenten Abraham Lincoln ist ein Demokrat aus Tennessee und verfolgt eine sehr gemäßigte Politik gegenüber den im Bürgerkrieg unterlegenen Südstaaten. Damit steht er in Konflikt zu den im Kongress über eine deutliche Mehrheit verfügenden Republikanern, die eine harte Linie bevorzugen. Darüber hinaus sperrt sich Johnson vehement gegen den vom Kongress vorgeschlagenen 14. Zusatzartikel zur Verfassung, der ehemaligen Sklaven die vollen Bürgerrechte zugesteht.

Am 13. Januar 1868 verfügt der Senat mit großer Mehrheit, dass mit dem im August 1867 von Johnson entlassenen Kriegsminister Edwin Stanton einer der entschiedensten Gegner des Präsidenten auf seinen Posten zurückkehren darf. Johnson akzeptiert widerwillig, entlässt Stanton aber fünf Wochen später erneut, ohne sich an die für einen solchen Schritt geltenden Regeln zu halten. Zum ersten und bis zur Lewinsky-Affäre 1999 einzigen Mal in der Geschichte der USA beschließt daraufhin das Repräsentantenhaus, ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten einzuleiten.

Um Johnson abzusetzen, braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Senat, die mit 36 Stimmen erreicht wäre. Bei der Abstimmung am 16. Mai 1868 schlagen sich jedoch zehn republikanische Senatoren auf die gegnerische Seite, so dass am Ende nur 35 Stimmen zusammenkommen. Einige der Abweichler begründen ihr Verhalten später damit, dass sie die Amtsübernahme ihres als besonders radikal geltenden und sich unter anderem für Gewerkschaften und das Frauenwahlrecht stark machenden Parteikollegen Benjamin Wade verhindern wollten. Andere wiederum empfinden das Verfahren als nicht rechtmäßig und verweisen zudem darauf, dass Johnsons Tage im Amt ohnehin gezählt seien. Tatsächlich scheitert Johnson im Juli 1868 mit dem Versuch, sich erneut als Kandidat aufstellen zu lassen. Bei der Wahl am 3. November 1868 siegt der Republikaner Ulysses S. Grant deutlich vor seinem demokratischen Konkurrenten Horatio Seymour.

Von den genannten Ereignissen nehmen die Menschen in Steinkimmen und den umliegenden, zum Großherzogtum Oldenburg gehörenden Dörfern wahrscheinlich wenig Notiz. Dort werden Präsidenten weder gewählt noch abgewählt, es regiert der Landesfürst auf Lebenszeit. Gleichwohl fällt Gerhards Geburt in eine für Deutschland entscheidende Epoche. Nur fünf Jahre nach Gründung des Norddeutschen Bundes geht dieser lose Staatsverband 1871 nach Ende des Deutsch-Französischen Krieges zusammen mit dem Großherzogtum Oldenburg im Deutschen Reich auf. Somit gibt es in der damals noch im Nachbardorf Kirchkimmen angesiedelten Volksschule, die Gerhard wahrscheinlich ab 1874 besucht, gleich zwei besondere Feiertage: den Geburtstag von Großherzog Peter II. am 8. Juli und den Geburtstag von Kaiser Wilhelm I. am 22. März.

In Kirchkimmen gehören unter anderem Johann Bleckwehl, Diedrich Petershagen, Anna Sosath, Diedrich Timmermann und Dietrich Osterloh zu Gerhards in etwa gleichaltrigen Mitschülern. Die vier erstgenannten wird er später in Hurrel wiedertreffen, Johann Bleckwehl sogar als Nachbarn und langjährigen Doppelkopf-Partner.

Wann es Gerhard ins von Steinkimmen rund acht Kilometer westlich gelegene Hurrel verschlägt, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Gut möglich, dass er nach Schulabschluss und Konfirmation auf einem der dortigen Höfe in Stellung geht. Vielleicht sogar auf dem Hof von Anna Catharine Brandt (heute: Edo und Klaus-Peter Wieting) an der Bremer Straße, der nach Anna Catharinas Tod im März 1885 – Ehemann Johann Brandt ist bereits 1872 verstorben – auf deren jüngste Tochter Beta übergeht. Vielleicht lernt Gerhard Beta aber auch erst kennen, als diese bereits Vollwaise ist.

Wie auch immer: Gerhard und Beta heiraten am 3. November 1891 in Ganderkesee, aus dem Brandt-Hof wird der Wieting-Hof. Bis Mai 1898 kommen mit Hinrich (Juni 1893), Theodor (September 1895) und Anna Mathilde drei Kinder zur Welt. Nach der dritten Geburt geht es Beta, die unter Tuberkulose leidet, allerdings von Monat zu Monat schlechter. Sie stirbt am 29. Dezember 1898, so dass Gerhard fortan mit dem Hof und den drei Kindern alleine steht. Hilfe kommt sehr wahrscheinlich von seinen Eltern, die sich insbesondere um die gerade erst geborene Tochter Anna Mathilde kümmern. Vermutlich verbringt Anna Mathilde sogar den größten Teil ihres kurzen Lebens bei den Großeltern in Steinkimmen: Sie stirbt dort im Oktober 1904 an einer Hirnhautentzündung.

Zu diesem Zeitpunkt ist Gerhard bereits seit dreieinhalb Jahren wieder verheiratet, und zwar mit Anna Bödeker aus Nuttel. Mit Heinrich (August 1902), Martha (September 1903) und Diedrich (September 1904) sind drei weitere Kinder hinzugekommen. Im Juni 1907 macht dann der jüngste Sohn Georg die Familie komplett.

Trotz der zur damaligen Zeit kraftraubenden Arbeit auf dem Hof und den vielen familiären Veränderungen engagiert sich Gerhard auch außerhalb der Landwirtschaft. So gehört er am 23. April 1899 zu jenen 14 Männern, die im Gasthof von Carl Busch (heute: Hajo und Dagmar Mehrings) den Schützenverein Hurrel aus der Taufe heben. Im Dezember 1902 ist er zudem Mitgründer der Molkerei Wüsting.

Da die älteren Söhne Hinrich und Theodor nach ihrem Schulabschluss auf dem Hof mitarbeiten, kauft Gerhard für den 1764 von Johann Berend Brandt gegründeten Betrieb bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 noch einige Hektar Land hinzu. Die er anschließend vor allem mit Hilfe der jüngeren Söhne bewirtschaften muss, denn Hinrich und Theodor ziehen an der Seite früherer Klassenkameraden wie Johann Haverkamp, Georg Lange, Carl Schwarting oder Heinrich Tönjes an die Front. Während die vier Letztgenannten ebenso heil zurückkehren wie Hinrich, wird Theodor kurz vor Kriegsende schwer verwundet und stirbt in einem Feldlazarett in der Nähe von Erlangen.

Vom Schicksal abermals schwer getroffen, bestimmt Gerhard nach dem äußerst holprig verlaufenden Wechsel vom Kaiserreich zur Weimarer Republik den jüngsten Sohn Georg zum Grunderben. Hinrich erhält dafür nach Abflauen der Hyperinflation die nötige Starthilfe, um 1925 mit Ehefrau Katharine an der Hurreler Straße einen eigenen Hof (heute: Wilfried und Dennis Wieting) zu gründen. Auch für die übrigen Kinder werden die folgenden Jahre zu einem wegweisenden Abschnitt ihres Lebens: Heinrich lässt sich in Oldenburg zum Lehrer ausbilden und unterrichtet später an der Volksschule in Sengwarden. Diedrich heiratet im Mai 1930 Hanna Wellmann aus Ocholt und zieht auf den Hof seiner Schwiegereltern. Martha wiederum, seit April 1929 Mutter der unehelich geborenen Tochter Inge, bleibt auf dem elterlichen Hof und hilft nach Kräften bei dessen Bewirtschaftung.

Losgelöst von der schon bald nach Inges Geburt aus den USA herüberschwappenden Weltwirtschaftskrise beginnt das neue Jahrzehnt für Gerhard – zwischenzeitlich zum Vorsitzenden des Schützenvereins Hurrel aufgestiegen – wenig verheißungsvoll. Ehefrau Anna stirbt im August 1932 nach längerer Krankheit, Gerhard ist zum zweiten Mal Witwer. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten fünf Monate später vermag zwar die wirtschaftliche Lage Deutschlands zunächst zu verbessern. Innenpolitisch jedoch erhebt die sich rasch etablierende Diktatur angesichts öffentlicher Bücherverbrennungen, Judenverfolgung und polizeilicher Willkür die Barbarei zum Staatsprinzip und führt ihre Bürger im September 1939 direkt in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs.

Zum zweiten Mal innerhalb von 25 Jahren muss Gerhard zusehen, wie seine Söhne einer nach dem anderen in den Krieg ziehen. Damit nicht genug: Kurz nach der Einberufung von Georg geht auf dem Hof ein Pferd durch und verletzt Gerhard schwer. Der Erinnerung von Enkelin Inge zufolge liegt er anschließend sieben Wochen lang im Krankenhaus und ist fortan auf einen Gehstock angewiesen. Die tägliche Hofarbeit können Martha und Inge in dieser Zeit nur mit Hilfe mehrerer, namentlich nicht mehr bekannter Kriegsgefangener bewältigen. Auch Gerhards Schwester Metta Strodthoff kommt regelmäßig aus Grüppenbühren herüber, um zu helfen.

Im April 1944 stirbt Gerhards Sohn Heinrich an den Folgen einer Herzmuskelentzündung. Georg und Diedrich überleben die letzten, besonders verlustreichen Kriegsmonate, geraten aber ihrerseits in Gefangenschaft. In Hurrel nimmt Gerhard derweil die aus Maiwaldau bei Hirschberg geflüchtete Witwe Martha Heier, ihre Kinder Joachim und Marianne und deren Onkel Arthur Heier bei sich auf. Arthur stirbt allerdings bereits im Laufe des Jahres 1945. Deshalb bleibt Gerhard, obwohl inzwischen 77 Jahre alt, als einziger Mann im Haus weiter voll in die tägliche Bewirtschaftung des Hofes eingebunden.

Die letzte, wieder etwas ruhigere Phase in Gerhards Leben beginnt 1949 mit zwei Hochzeiten: Im Juni heiratet Enkelin Inge Hugo Molde und zieht auf dessen Hof nach Dingstede. Mit Georgs Ehefrau Irmgard Hoffmeier kommt knapp sechs Monate später eine Schwiegertochter ins Haus. Daraufhin überschreibt Gerhard Tochter Martha einen rund vier Hektar großen, heute nicht mehr bestehenden Hof an der Hurreler Straße, den er schon 1898 von den Erben Röbe Haverkamps gekauft hatte und der nach einem zwischenzeitlichen Weiterverkauf seit 1921 wieder zum Familienbesitz gehört.

Im Februar 1954 erlebt Gerhard noch Marthas Hochzeit mit Hinrich Kruse, dem verwitweten Leiter der Volksschule in Westrittrum. Ein knappes Jahr später erkrankt er an einer Nierenentzündung, von der er sich nicht mehr erholt: Gerhard stirbt am 29. Januar 1955 im Städtischen Krankenhaus in Delmenhorst und wird fünf Tage später auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude beerdigt.