Erna Schütte wird am 8. März 1912 als erstes Kind von Friedrich Lange und Amalie Lange im Haus ihrer Eltern in Hurrel (heute: Alfred Voigt und Insa Minnemann) geboren. Sie ist die ältere Schwester von Adele Lange, Johann Lange, Heinrich Lange und Herta Kirchhoff.
Eine Woche vor Ernas Geburt erreicht der Kampf britischer Suffragetten für das Frauenwahlrecht einen neuen Höhepunkt. In London ziehen zahlreiche Aktivistinnen der von Emmeline Pankhurst angeführten Woman’s Social and Political Union durch verschiedene Einkaufsstraßen und zertrümmern die Schaufenster der anliegenden Geschäftshäuser. Einige Frauen dringen sogar bis zur Downing Street vor und zerschlagen Fensterscheiben im Regierungsgebäude und am Wohnsitz von Premierminister Herbert Henry Asquith. Aquith hatte 1910 vor der Parlamentswahl zugesagt, ein Gesetz zum Frauenwahlrecht auf den Weg zu bringen, anschließend aber nicht geliefert. „Better broken windows than broken promises“ ist deshalb die Aktion übertitelt. Pankhurst wird wie fast 150 weitere Frauen festgenommen und später zu einer zweimonatigen Haftstrafe verurteilt.
Anlässlich des zum zweiten Mal veranstalteten Weltfrauentages finden Anfang März 1912 auch in der deutschen Hauptstadt Berlin sowie in anderen Städten Großkundgebungen zum Frauenwahlrecht statt. Zu den Initiatorinnen gehören wie im Vorjahr die SPD-Politikerinnen Clara Zetkin und Käte Duncker. Mehr öffentliche Aufmerksamkeit zieht allerdings ein am 11. März beginnender Bergarbeiter-Streik im Ruhrgebiet auf sich. Bis zum 20. März befinden sich zeitweise mehr als 230.000 Arbeiter im Ausstand, was rund 60 Prozent der gesamten Belegschaft im Ruhrbergbau entspricht. Im Mittelpunkt der Forderungen stehen angesichts gestiegener Lebenshaltungskosten eine Lohnerhöhung von 15 Prozent sowie die Einführung einer Acht-Stunden-Schicht.
Anders als beim vorigen größeren Streik von 1905 zeigen die Arbeitgeber allerdings wenig Entgegenkommen – unter anderem, weil sich einige der eher christlich als sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften offiziell nicht beteiligen. Auch von Kaiser Wilhelm II. kommen von Beginn an scharfe Töne. In einer Notiz an den preußischen Innenminister Johann von Dallwitz heißt es: „Vor allem Schutz der Arbeitswilligen in der energischsten Form! Scharfschießen!“ Tatsächlich rücken am 14. März rund 5.000 Soldaten in die Kreise Dortmund, Hamm und Recklinghausen ein. Bei Zusammenstößen mit den Streikenden werden in den folgenden Tagen insgesamt vier Arbeiter getötet und zahlreiche weitere verletzt. Daraufhin bricht die Streikleitung den Ausstand ohne konkretes Ergebnis ab.
Verglichen mit London, Berlin und dem Ruhrgebiet geht es im Frühjahr 1912 in Hurrel wie auch im gesamten Großherzogtum Oldenburg relativ beschaulich zu. Damit ist es etwas mehr als zwei Jahre später jedoch schlagartig vorbei: Anfang August 1914 bricht der Erste Weltkrieg aus, an dem auch Ernas Vater teilnimmt. Bis dahin hat Friedrich Lange als Stellmacher in der eigenen Werkstatt an der Ortstraße gearbeitet, er betreibt nebenbei aber auch wie damals üblich ein wenig Landwirtschaft mit einer Kuh sowie einigen Schweinen und Hühnern. In der Familie, zu der auch Pflegetochter Anna Osterloh gehört, herrscht schon einige Tage vor dem offiziellen Kriegsbeginn Ausnahmezustand – am 27. Juli ist Ernas im Dezember 1913 geborene Schwester Adele gestorben.
Als Erna im Frühjahr 1918 eingeschult wird, ist das Ende des Krieges noch nicht in Sicht. Im Gegenteil: Nur wenige Tage später startet das deutsche Heer an der Westfront mit der Operation Georgette den zweiten Teil seiner Frühjahrs-Offensive, zeitgleich erobern deutsch-finnische Truppen im Norden Helsinki. Am Ende dieses historischen Jahres stehen jedoch der Waffenstillstand von Compiègne und damit die Niederlage des Kaiserreichs. Kurz danach kehrt Ernas Vater nach Hause zurück.
Nach dem Abschluss der Volksschule Hurrel geht Erna beim Sandersfelder Gastwirt Wilhelm Imholze in Stellung, wo sie sowohl in der Landwirtschaft als auch im Haushalt und bei im Saal veranstalteten Feierlichkeiten hilft. Dort lernt sie ihren späteren Ehemann Heinrich Schütte kennen, dessen Eltern in Wüsting eine Schmiede betreiben. Heinrich selbst nimmt kurz darauf eine Meister-Stelle beim Bergedorfer Schmied Bernd Schütte an und zieht in die Gemeinde Ganderkesee.
Erna und Heinrich heiraten am 2. November 1937. Knapp vier Monate später kommt in Delmenhorst Tochter Gerda zur Welt. Weil Heinrich in der Zwischenzeit zum von den seit 1933 regierenden Nationalsozialisten wieder eingeführten Wehrdienst einberufen wird, zieht Erna mit Gerda zunächst zu den Eltern nach Hurrel. Erst kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs richten sich Erna und Heinrich im Hause der Schmiede Schütte in Bergedorf eine kleine Mietwohnung ein. Das Zusammensein dort ist jedoch nur von kurzer Dauer: Schon bald nach Kriegsausbruch erhält Heinrich seine Einberufung zur Wehrmacht. In den folgenden Jahren sieht er seine Familie, zu der seit Heiligabend 1941 auch Tochter Helma gehört, immer nur zu Kurzurlauben. Um etwas Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, hilft Erna derweil viel auf den landwirtschaftlichen Betrieben der Nachbarschaft.
Gegen Ende des Krieges werden die Verluste der Wehrmacht immer größer, und auch Heinrich kehrt nicht in die Heimat zurück. Auf die Frage, wo und wann genau er zu Tode kommt, erhält Erna zeitlebens keine eindeutige Antwort. Der letzte ihr bekannte Einsatzort ist Jassy in Rumänien, wo Heinrich vermutlich im Spätsommer 1944 den äußerst blutigen Kämpfen gegen die Rote Armee zum Opfer fällt.
Der Neustart nach der Stunde Null im Mai 1945 verläuft für Erna und ihre beiden Kinder eher holprig: Da Ehemann Heinrich offiziell nur als verschollen gilt, erhält sie zunächst keine Rente. Im Jahr darauf muss sie zudem ihre Wohnung räumen, weil der Platz für die Familie des neuen Schmiedemeisters benötigt wird. Deshalb nimmt Erna gern das Angebot ihres früheren Dienstherrn Wilhelm Imholze an, erneut für ihn zu arbeiten und zusammen mit der Familie von Johannes Meyer und einer weiteren ausgebombten Familie aus Bremen in der Gaststätte zu wohnen.
Das Provisorium dauert sechs Jahre – bis Erna 1952 mit Gerda und Helma im nach einem Blitzschlag im August 1951 neu errichteten Haus ihrer Eltern Unterschlupf findet. Der Gaststätte Imholze hält sie jedoch auch in den folgenden Jahrzehnten die Treue und hilft dort aus, wann immer sie gebraucht wird. Gleiches gilt für Ernteeinsätze in der Nachbarschaft, etwa auf den Höfen von Gerhard Janzen (heute: Daniela und Hans Mertsch), Heinrich Tönjes (heute: Ingo Stöver und Sara Bolte), Heinrich Schwarting (heute: Heino und Heiko Schwarting) und Adele Schweers (heute: Ingo und Edo Schweers).
Nach dem Auszug der beiden Töchter und dem Tod ihrer Eltern lebt Erna ab 1974 allein – was keineswegs bedeutet, dass sie einsam ist: Neben ihrer Arbeit findet sie Gesellschaft im Kegel- und Karten-Club und geht auch gelegentlich auf Reisen: So besucht sie in den 70er und 80er Jahren mehrfach die Familie ihrer Schwägerin Marianne Lange in Topfseifersdorf im Landkreis Mittelsachsen.
Als Erna 1992 kurz nach ihrem 80. Geburtstag an Krebs erkrankt, gibt sie den eigenen Haushalt auf und zieht zur Familie von Tochter Helma nach Neerstedt. Dort stirbt sie am 9. August 2003 im Alter von 91 Jahren an Altersschwäche. Beerdigt ist sie fünf Tage später auf dem Evangelischen Friedhof in Dötlingen.