Emilie Ahrens – Rufname Mile – wird am 4. Januar 1931 als drittes Kind von Johann Kron und Pauline Kron in Borodino geboren, rund 130 Kilometer westlich der ukrainischen Hafenstadt Odessa. Sie ist die jüngere Schwester von Herta Müller und Else Wolf und die ältere Schwester von Edgar Kron.
Am Tag von Miles Geburt startet die deutsche Pilotin Elly Beinhorn in einer 40 PS starken Klemm L25 von Berlin aus zu ihrem ersten Afrika-Flug nach Guinea-Bissau. Dort warten die schon im Vorfeld angereisten Völkerkundler Hugo Bernatzik und Bernhard Struck, um mit Beinhorns Hilfe im Rahmen einer Forschungsexpedition Luftaufnahmen anfertigen zu können. Gegen Abend des 4. Januar 1931 gerät die 23-jährige Flug-Pionierin über dem Schwarzwald in ein Schneegestöber und muss auf einem Feld notlanden. Im weiteren Verlauf der Reise kommt es aber zu keinen nennenswerten Zwischenfällen mehr. Über Basel, Lyon, Madrid, Sevilla, Gibraltar, Rabat, Casablanca und Dakar erreicht Beinhorn am 1. Februar 1931 die Landeshauptstadt Bissau.
Vor Ort läuft dann ebenfalls alles nach Plan. Beinhorn absolviert mit Bernatzik und Struck diverse Rundflüge und tritt am 15. März 1931 die Rückreise nach Deutschland an. Die um ein Haar zu einem Flug ohne Wiederkehr gerät: Zwischen Bamako und Timbuktu bricht die Ölleitung der Maschine, Beinhorn muss im unwirtlichen Sumpfgebiet des Niger notlanden und gilt tagelang als verschollen. Zunächst von Angehörigen des Songhai-Volkes aufgenommen, erreicht sie mit Hilfe eines ehemaligen, im Ersten Weltkrieg für Frankreich kämpfenden einheimischen Soldaten doch noch Timbuktu.
Eine vor Ort hastig zusammengestellte Expedition scheitert an der Aufgabe, das gestrandete Flugzeug wieder flottzumachen. Daraufhin schickt die Redaktion der B.Z. am Mittag, die Beinhorns Abenteuer-Trip journalistisch begleitet, eine Ersatzmaschine. Über mehrere Umwege und nach einer weiteren, durch verunreinigtes Benzin verursachten Notlandung in Algerien beendet Beinhorn am 30. April 1931 ihre Reise und wird auf dem Flughafen Tempelhof von Reichspräsident Paul von Hindenburg unter dem Hurra der Berliner Bevölkerung in Empfang genommen.
Auf einen Schlag zur nationalen Berühmtheit aufgestiegen, plant Beinhorn prompt ihr nächstes Projekt – die erste Weltumrundung im Alleinflug durch eine Frau. Dafür startet sie am Morgen des 4. Dezember 1931 von Berlin-Staaken in einer Klemm L26 Richtung Osten. Über die Balkan-Route mit Halt in Budapest, Belgrad und Sofia nimmt sie Kurs auf Istanbul und fliegt von dort weiter nach Delhi und Kalkutta, wo sie den Jahreswechsel verbringt. Bangkok, Singapur, Batavia, Sydney, Lima, Santiago de Chile, Buenos Aires und Salvador da Bahia lauten nur einige der weiteren Stationen der abermals von spektakulären Notlandungen unterbrochenen Tour. Sie führt Beinhorn nach einer Atlantik-Überquerung per Schiff am 26. Juli 1932 von Bremerhaven über Hannover zurück nach Berlin und steigert ihren Bekanntheitsgrad noch einmal beträchtlich.
Hätte die 1922 gegründete Sowjetunion nicht die nötige Genehmigung verweigert, dann wäre Beinhorn im Dezember 1931 auf der ursprünglich favorisierten Route Richtung Indien möglicherweise ganz in der Nähe von Miles Heimatort vorbeigeflogen. Borodino gehört zwar seit Ende des Ersten Weltkriegs zum Königreich Rumänien, liegt aber nah der Grenze zur sowjetisch beherrschten Ukraine und war bis 1918 als Gouvernement Bessarabien Bestandteil des Russischen Kaiserreichs. Mit dessen einstigem Herrscher Alexander I. ist die 1932 knapp 2.600 Einwohner zählende Siedlung eng verbunden. Alexander nämlich rief 1813 deutsche Kolonisten ins Land, die Borodino – benannt nach dem gleichnamigen Dorf nahe Moskau, in dem 1812 eine der blutigsten Schlachten des Russland-Feldzugs von Napoleon Bonaparte stattfand – ein Jahr später gründeten. Mit dabei in dieser ersten Generation der Bessarabien-Deutschen waren Adam und Jakob Kron aus Bonlanden bei Esslingen, zwei Mitglieder der Familie von Miles Vater Johann Kron. Der ältesten Siedlung Borodino folgten im Laufe der Jahrzehnte etwa 150 weitere Dörfer und Weiler.
Wie schon unter russischer Herrschaft bleiben die insgesamt etwas mehr als 90.000 Bessarabien-Deutschen in Rumänien weitgehend unter sich. Die meisten von ihnen sprechen schwäbischen Dialekt, heiraten in aller Regel nur untereinander und sind innerhalb ihrer jeweiligen Dorfgemeinschaft Selbstversorger. Wie fast alle Bewohner von Borodino betreiben auch Miles Eltern Landwirtschaft, wobei die genaue Größe ihres Besitzes heute nicht mehr bekannt ist. Wahrscheinlich sind es aber nach wie vor jene rund 65 Hektar, die Zar Alexander 1814 jedem Neu-Siedler der ersten Generation zuteilen ließ. Anders als in der schwäbischen Heimat von Miles Vorfahren gilt in Bessarabien nämlich nicht die zu immer kleineren Grundstücken führende Realteilung, sondern das Jüngstenrecht.
In diesem ganz besonderen und in gewisser Weise durchaus idyllischen Kosmos wächst Mile mit den drei Geschwistern heran und besucht von 1937 an die dorfeigene Volksschule – fernab von all den Veränderungen, die sich seit ihrer Geburt in Deutschland ereignet haben. Dort ist zwar Elly Beinhorn nach der 1936 geschlossenen Ehe mit dem Autorennfahrer Bernd Rosemeyer prominenter denn je. Aus der ehemals weltoffenen Weimarer Republik, von der aus sie ihre spektakulären Langstreckenflüge unternahm, ist jedoch in der Zwischenzeit eine Diktatur geworden mit dem ehemaligen Festungs-Häftling Adolf Hitler als unumschränktem Herrscher. Als dieser am 1. September 1939 der Wehrmacht den Befehl zum Überfall auf Polen erteilt, beginnt der Zweite Weltkrieg.
Dem Überfall vorausgegangen ist eine Einigung Hitlers mit dem sowjetischen Diktator Josef Stalin. Sie sieht eine Aufteilung Osteuropas in eine deutsche und eine sowjetische Interessenssphäre vor – mit gravierenden Folgen für Mile und ihre Familie. Denn das als Hitler-Stalin-Pakt in die Geschichte eingegangene Abkommen lässt der Sowjetunion freie Hand bei der geplanten Besetzung Bessarabiens. Der Einmarsch der Roten Armee erfolgt am 27. Juni 1940 nach einem für gerade einmal für 48 Stunden geltenden Ultimatum an Rumänien, die betreffenden Gebiete ersatzlos abzutreten. Hitler fordert daraufhin die Bessarabien-Deutschen auf, ihre Siedlungen zu verlassen und „heim ins Reich“ zu kommen. Eine Aufforderung, der eine breite Mehrheit der Angesprochenen im Oktober 1940 notgedrungen Folge leistet.
Ob Mile als Neunjährige ermessen kann, welch harten Einschnitt dies für ihre Eltern bedeutet? Sie müssen schließlich nicht nur eine 125-jährige Familiengeschichte und die Gräber der Vorfahren zurücklassen, sondern nahezu ihr gesamtes Hab und Gut. Mile, ihren Geschwistern und den anderen Kindern aus Borodino mag die von einer deutsch-sowjetischen Kommission organisierte Umsiedlung dagegen zunächst eher wie ein großes Abenteuer vorkommen. Vielleicht finden sie anfangs sogar Gefallen daran, dass der Schulunterricht bis auf Weiteres ersatzlos ausfällt. Ganz zu schweigen von dem Erlebnis, per Ausflugsdampfer die Donau rund 1.000 Kilometer stromaufwärts Richtung Deutschland zu schippern, ehe es von Jugoslawien aus per Zug weitergeht nach Villach und von dort in ein eigens für die Umsiedlung eingerichtetes Auffanglager in der Lausitz.
Je länger der Aufenthalt im Lager dauert, desto stärker dürfte die Situation jedoch auch an Miles Nerven zerren. Der Empfang im Reich ist nicht sonderlich freundlich – zu fremd muten die Neuankömmlinge an, die sich durch Kleidung, Sitten und Gebräuche doch deutlich von den Einheimischen unterscheiden und von diesen wegen ihrer Herkunftsbezeichnung mitunter sogar für Araber gehalten werden. Anfangs ist zudem gar nicht sicher, wie es weitergeht: Ihrer kruden Rassenideologie folgend, unterziehen Hitlers Nationalsozialisten sämtliche bessarabischen Familien einem rigiden Einbürgerungstest: Nur wer als gesund und rassisch wertvoll eingestuft wird, darf auf die Einlösung des Versprechens setzen, als Siedler in den bis 1939 zu Polen gehörenden Ostgebieten eine neue Existenz zu finden.
Wann genau Miles Eltern die erlösende Nachricht erhalten, Richtung Osten weiterziehen zu dürfen, liegt heute im Dunkeln, ebenso der genaue Zeitpunkt ihrer Ankunft in dem kleinen Dörfchen Osnowo im Landkreis Kulm. Die 130 Kilometer südlich von Danzig gelegene Region gehörte bis 1920 zur Provinz Westpreußen, musste aber nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg an Polen abgetreten werden. Über die früheren Eigentumsverhältnisse des von der Familie in Besitz genommenen landwirtschaftlichen Betriebes lässt sich aus heutiger Sicht nur spekulieren. Angesichts der belasteten Vorgeschichte dürfte jedoch klar sein, dass es um das Verhältnis zwischen den zugewanderten deutschen Siedlern und den wenigen als Arbeitskräfte vor Ort verbliebenen Polen nicht unbedingt zum Besten steht.
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 sieht es zunächst so aus, als sollte Hitlers Wahn von weiterem Lebensraum im Osten Wirklichkeit werden. Spätestens nach der Niederlage in der Schlacht von Stalingrad im Februar 1943 wendet sich jedoch das Blatt. Die weit ins russische Hinterland eingefallene Wehrmacht muss den Rückzug antreten und gerät immer stärker in Bedrängnis. Im Oktober 1944 überschreiten Einheiten der Roten Armee in Ostpreußen erstmals die Reichsgrenze. Trotzdem werden von deutscher Seite zunächst keinerlei Maßnahmen zur Evakuierung der Zivilbevölkerung ergriffen.
Mitte Januar 1945 – Mile hat in Osnowo gerade ihren 14. Geburtstag gefeiert und bereitet sich auf die Konfirmation vor – überschlagen sich die Ereignisse. Im Rahmen einer großangelegten Offensive erzielt die Rote Armee massive Geländegewinne und stößt dabei auch in Richtung Osnowo vor. Miles Eltern entschließen sich zur Flucht und beladen eilig zwei von je zwei Pferden gezogene, mit dem Nötigsten beladene Planwagen. Bei Schnee und eisiger Kälte von teilweise unter minus 20 Grad Celsius geht es zusammen mit anderen Dorfbewohnern über Nebenstraßen Richtung Westen, auch bei Nacht. Während die Eltern lenken, laufen Mile und ihre Geschwister neben den Wagen her. Manchmal hören sie in der Ferne Geschützdonner, mit der Front selbst kommen sie aber glücklicherweise nicht in Berührung. Mit dem in jenen Monaten quasi überall lauernden Tod dagegen schon: Wie Mile später einmal erzählen wird, bricht beim Überqueren eines zugefrorenen Haffs nicht weit entfernt von ihr eine Person durchs Eis, ohne danach wieder aufzutauchen.
Über die genaue Route der sich über zwei Monate hinziehenden Flucht ist heute in der Familie nichts mehr bekannt. Irgendwo auf der Durchreise kauft Vater Johann ein Schwein, das noch vor Ort geschlachtet, zerlegt, gepökelt und in einem Holzfass transportiert wird. Als Mile an einer anderen Station völlig übermüdet einschläft, ist nach dem Aufwachen ein ihr anvertrauter Koffer verschwunden. Mag der Verlust in jenem Moment auch nebensächlich sein, schmerzlich ist er dennoch: Der Inhalt bestand überwiegend aus alten, noch in der bessarabischen Heimat gefertigten Fotografien. Zeit, darüber nachzugrübeln, bleibt keine. Die Odyssee ohne Wiederkehr geht weiter und führt Mile und ihre Familie schließlich ins Oldenburger Land nach Munderloh, wo sie in einer Baracke auf dem Hof des späteren Bezirksvorstehers Heinrich Menke (heute: Edo Fiedler) Unterschlupf findet.
Der Krieg ist zwar Anfang Mai 1945 zu Ende, doch von Normalität kann in den folgenden Wochen und Monaten auch in Munderloh nicht im Ansatz die Rede sein. Noch in den letzten Apriltagen war es im Ort zu Gefechten zwischen einzelnen Wehrmachtsangehörigen und vorrückenden kanadischen Einheiten gekommen. Dabei gerieten mehrere Hofstellen und die Dorf-Gaststätte von Wilhelm Brüers in Brand. Viele Männer sind, sofern sie den Krieg überlebt haben, noch in Gefangenschaft. In der übergeordneten Gemeinde Hatten treffen beinahe täglich weitere Flüchtlingsfamilien ein, die von den Besatzungsbehörden auf die einzelnen Ortschaften verteilt werden. Immerhin, die vor dem Krieg viele Arbeitsplätze bietende Ziegelei Munderloh hat die Kämpfe nahezu unbeschädigt überstanden und nimmt ihren Betrieb zügig wieder auf.
Mag das politische System auch komplett zusammengebrochen sein, die Strukturen der Kirchengemeinde Hatten sind es nicht. Ein kleiner Trost für Miles Eltern, die dem evangelischen Glauben schon in Bessarabien eng verbunden waren. So ist es für die ganze Familie ein besonderer Moment, als Mile am 24. Juni 1945 in der St.-Ansgari-Kirche in Kirchhatten ihre in Osnowo ausgefallene Konfirmation nachholen kann.
Arbeit gibt es in Munderloh nicht nur auf der Ziegelei, sondern auch in der Landwirtschaft. Das ist für die folgenden Jahre Miles Hauptbetätigungsfeld – obwohl sie angesichts des ihr auf dem Weg von Borodino nach Munderloh so lange zugemuteten Unterrichtsausfalls lieber noch weiter zur Schule gegangen und anschließend gern Kindergärtnerin geworden wäre. Doch die Zeiten sind nicht danach, und so konzentriert sich Mile neben dem Kühemelken und der Feldarbeit auf ein leichter erreichbares, ihr gleichwohl sehr am Herzen liegendes Ziel: den Kauf eines gebrauchten Fahrrads, für das sie kurz vor der Währungsreform vom Juni 1948 das nötige Geld beisammenhat.
Noch im selben Jahr nutzt Mile ihre neue Mobilität und geht in Hurrel auf dem Pachthof von Heinrich und Sophie Wiechmann in Stellung (heute: Ursula Schlake). Dort fühlt sie sich von Beginn an gut aufgenommen. Auch der Kontakt zur Dorfjugend ist schnell hergestellt. Ein junger Mann, der sie nach einer Tanzveranstaltung im Gasthof von Otto Mehrings gerne nach Hause begleitet hätte, behält Mile weiter im Blick und pfeift ihr manchmal nach, wenn sie nach dem Melken über die Straße geht. Zunächst beachtet sie ihn nicht weiter, dann aber gibt sie seinem Werben schließlich doch nach. Helmut Ahrens – so der Name des Verehrers – ist zwei Jahre älter als Mile und bewohnt mit Mutter Anna einen vom Wiechmann-Hof rund einen Kilometer entfernten Altenteiler-Hof an der Pirschstraße (heute: Erika und Gerhard Ahrens). Die Beziehung verfestigt sich und erweist sich als stärker als so mancher Standesdünkel, der dem jungen Paar aus der Verwandtschaft des späteren Bräutigams entgegenschlägt.
Mile und Helmut heiraten am 19. Mai 1950. Nur zwei Wochen später stirbt kurz vor ihrem 60. Geburtstag Schwiegermutter Anna. Vorübergehend siedeln daraufhin Miles Eltern von Munderloh nach Hurrel über, ziehen aber später nach Herbrechtingen bei Ulm weiter. Dort hat Miles Bruder Edgar in der Zwischenzeit eine neue Heimat gefunden. Im Februar 1951 bringt Mile Tochter Christa zur Welt, im Mai 1952 dann die zweite Tochter Erika. Derweil schmiedet Helmut auf dem Altenteiler-Hof eifrig Zukunftspläne – schließlich ist er Erbe des mit rund 60 Hektar ungleich größeren, seit 1927 an Wilhelm und Johanne Hohlen verpachteten Ahrens-Stammhofes (heute: Rolf Ahrens und Sonja Kosmann).
Nach dem Umzug auf den Stammhof kommen mit Ingrid (Juli 1953), Wilfried (September 1954), Heiko (April 1956), Waltraud (Juni 1957) und Anke (März 1959) fünf weitere Kinder hinzu. Dass Mile nebenher auch in der Landwirtschaft mitarbeitet, versteht sich von selbst. Obwohl der Betrieb in der bestehenden Form mehr als genug abwirft, entscheidet sich Helmut für ein anderes Geschäftsmodell: Nach einer ersten Verkleinerung im Oktober 1958 lässt er im März 1960 seinen gesamten Viehbestand versteigern, verpachtet den Ahrens-Hof erneut und stampft vom Altenteiler-Hof aus einen Eierhandel sowie später eine Hähnchen-Mästerei und – nach einem mutmaßlich durch Kurzschluss verursachten Brand in den Stallanlagen im Dezember 1966 – eine Kälbermast aus dem Boden. Derweil machen bis zum Ende des Jahrzehnts die weiteren Kinder Karin (Mai 1960), Rolf (Oktober 1963) und Sonja (August 1969) die Familie komplett.
In Spitzenzeiten versorgen Helmut und Mile mit tatkräftiger Mithilfe der älteren Kinder bis zu 1.200 Kälber. Trotz des damit verbundenen Arbeitspensums bleibt hin und wieder Raum für kurze Auszeiten. Die nutzt die Familie gern für spontane Ausflüge, beispielsweise in den Teutoburger Wald oder an die Weser. Dabei gerät ein im Juli 1971 unternommener Badeausflug an den Strand von Oberhammelwarden zum Desaster: Während Mile und die mitgefahrenen Kinder alles für die Heimfahrt vorbereiten, geht Helmut noch einmal kurz ins Wasser – und wird dabei vom Sog eines vorbeifahrenden Schiffes erfasst. Als die anderen sein Verschwinden bemerken, ist es für eine Rettung längst zu spät. Erst Tage später findet ein morgendlicher Spaziergänger Helmuts Leiche im Schilf des Weserufers.
In den Wochen nach dem Unglück ist Mile vor Schmerz wie betäubt. Der plötzliche Schicksalsschlag lässt die Familie jedoch noch enger zusammenrücken als ohnehin schon. Die älteren Kinder kümmern sich um die jüngeren, alle kennen und erledigen ihre Aufgaben. Da kein Testament existiert, fällt der Ahrens-Hof gemäß Jüngstenrecht an die erst zweijährige Tochter Sonja. Er wird aber zunächst von der ältesten Tochter Christa und ihrem Ehemann Josef Alterbaum weitergeführt und bleibt in dieser Zeit einer der größten Kälbermast-Betriebe des Dorfes.
Hat Mile in den Jahren zuvor schon einiges an in der Kindheit versäumtem Wissen nachgeholt und mit Lebenserfahrung ergänzt, so gewinnt sie als Witwe notgedrungen Stück für Stück weiter an Selbstständigkeit. Zum Beispiel, indem sie Auto fahren lernt und nach bestandener Prüfung unter anderem bis nach Düsseldorf fährt, um Verwandte zu besuchen. Mit dem Kegeln entdeckt Mile zudem ein Hobby für sich, bei dem sie auf Turnieren – zunächst mit einem gemischten Team aus Munderloh, später mit Hurreler Nachbarinnen – einige Erfolge verbuchen kann. Im Mittelpunkt steht allerdings weiterhin die Familie, die nach der Geburt der ersten Enkeltochter Daniela im August 1970 stetig weiterwächst und am Ende inklusive einer 1988 als Säugling verstorbenen Enkelin bis 2009 insgesamt 19 Enkelkinder und sechs Urenkelkinder hervorbringt.
Was Mile relativ früh zu schaffen macht, ist ihre Gesundheit. Schon zu Beginn der 1980er Jahre stellen sich erste rheumatische Beschwerden ein, die häufig in Schüben kommen und fortan über gute und schlechte Tage bestimmen. Linderung versprechen neben zwei Kniegelenksprothesen und später auch zwei künstlichen Hüftgelenken unter anderem von der Deutschen Rheuma-Liga angebotene Reisen in diverse europäische Thermalbäder, von denen Mile jedes Mal nahezu schmerzfrei zurückkehrt. Ein Effekt, der jedoch leider nicht von Dauer ist.
Trotz ihres fortschreitenden Rheumas lebt Mile lange Zeit weiter allein auf dem Altenteiler-Hof an der Pirschstraße. Erst 2007 willigt sie ein, zumindest die Nächte bei Sohn Heiko und Schwiegertochter Astrid in Munderloh zu verbringen, wohin sie jeweils nachmittags mit einem eigens dafür angeschafften Krankenfahrstuhl fährt. Nach einem kurzen Krankenhaus-Aufenthalt zur medikamentösen Neueinstellung bleibt Mile schließlich im Frühjahr 2009 ganz in Munderloh. Dort stirbt sie am 27. April 2009, knapp vier Monate nach ihrem 78. Geburtstag. Beerdigt ist Mile drei Tage später auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude.