Dietrich Stolle – Biographie

Dietrich Hinrich Stolle wird am 14. Oktober 1906 als drittes Kind von Johann Hinrich Stolle und Rebecka Stolle auf dem elterlichen Hof in Hurrel (heute: Hartmut und Ute Stolle) geboren. Er ist der jüngere Bruder von Gerhard Diedrich Stolle. Ein weiterer, im März 1898 geborener Bruder stirbt unmittelbar nach der Niederkunft und bleibt deshalb namenlos.

Drei Tage vor Dietrichs Geburt erlässt die Schulbehörde von San Francisco eine Verordnung, die die Kinder japanischer Einwanderer vom Besuch regulärer Schulen ausschließt: Sie sollen künftig zusammen mit chinesischen und koreanischen Kindern in einer separaten „Oriental Public School“ unterrichtet werden. Die Behörde löst damit ein Versprechen ein, das Bürgermeister Eugene Schmitz angesichts der seit Jahren steigenden Einwanderung aus Japan und damit verbundener Anfeindungen schon in seiner Wahl-Kampagne von 1901 aufgestellt hatte. Schmitz schreckte zunächst vor der Umsetzung zurück, da die dafür erforderlichen Neubauten die Stadt zu teuer gekommen wären. Nach dem verheerenden Erdbeben vom 18. April 1906 haben jedoch viele chinesisch-stämmige Familien San Francisco verlassen – die dadurch freiwerdenden Plätze in der ursprünglich nur für chinesische Kinder vorgesehenen Oriental Public School sollen nun die japanischen und koreanischen Schüler auffüllen.

Der Aufschrei in der japanischen Gemeinde der Stadt ist groß. Viele betroffene Eltern empfinden die Verordnung als Verstoß gegen einen 1894 geschlossenen Vertrag, der japanischen Einwanderern die gleichen Rechte einräumt wie US-Bürgern. Zudem argumentieren sie, dass sich der Schulweg ihrer Kinder dadurch teilweise drastisch verlängert. Als erste Zeitungen in Tokio über das Thema berichten, regt sich auch in Japan Empörung und der japanische Botschafter in Washington legt bei der US-Regierung offiziell Protest ein.

US-Präsident Theodore Roosevelt, im Jahr zuvor maßgeblich an der Beendigung des Russisch-Japanischen Krieges beteiligt und sowohl aus politischen als auch aus wirtschaftlichen Gründen an guten Beziehungen zu Japan interessiert, interveniert daraufhin in San Francisco – blitzt aber mit seiner Forderung, die Verordnung zurückzunehmen, zunächst ab. Erst als auch die japanische Seite zu Zugeständnissen bereit ist, kommt es im Februar 1907 zu einer Einigung: Die Regierung in Tokio verpflichtet sich, auswanderungswilligen Arbeitern mit dem Ziel USA keine Visa mehr zu erteilen. Im Gegenzug gilt fortan in San Francisco für japanisch-stämmige Eltern wieder die freie Schulwahl.

In Hurrel, das 1897 nach mehr als 200-jähriger Schul-Gemeinschaft mit dem Nachbardorf Lintel ein eigenes Schulgebäude erhalten hat, nimmt vom rassistisch motivierten Kulturkampf im 9.000 Kilometer entfernten San Francisco mit Sicherheit niemand Notiz. Schon gar nicht in Dietrichs Familie. Dort hat man zum Zeitpunkt seiner Geburt ganz andere Sorgen: Nur zwei Wochen zuvor ist Vater Johann Hinrich an Blutarmut verstorben. Mutter Rebecka verpachtet daraufhin den von ihren mittlerweile ebenfalls verstorbenen Schwiegereltern gekauften Stolle-Hof an Johann Hinrichs Halbbruder Gerhard und dessen Ehefrau Anna, bleibt aber mit ihren beiden Söhnen auf dem Betrieb wohnen. Ein Fünf-Personen-Haushalt, der in den folgenden Jahren kontinuierlich wächst: Im Januar 1908 wird Gerhards und Annas Sohn Johann geboren, im Februar 1910 dessen Bruder Gustav und im November 1913 Tochter Adele.

Sehr wahrscheinlich ab Frühjahr 1913 besucht Dietrich die Volkschule Hurrel, wo neben Vetter Johann unter anderem Diedrich Gramberg, Heinrich Janzen, Johann Janzen, Heinrich Pannenborg, Heinrich Schütte, Johann Schütte, Bernhard Spreen, Karl Timmermann, Diedrich Wieting, Georg Wieting und Hinrich Wilkens zu seinen in etwa gleichaltrigen Mitschülern gehören. Knapp anderthalb Jahre später beginnt der Erste Weltkrieg. Plötzlich ist Dietrich aus der genannten Reihe nicht mehr der Einzige, der – wenn auch im Falle der Klassenkameraden nur vorübergehend – ohne Vater aufwächst. Sein Onkel Gerhard zieht ebenfalls in den Krieg, so dass Dietrich fortan deutlich stärker in die Bewirtschaftung des Stolle-Hofes einbezogen sein dürfte. Dies gilt umso mehr, als Bruder Gerhard Diedrich 1915 nach dem Schulabschluss auf dem Hof von Hinrich Schweers (heute: Ingo und Edo Schweers) in Stellung geht und dort nach dessen Tod an der Ostfront zu einer wichtigen Stütze wird.

Dietrichs Mutter ist nicht nur Eigentümerin des Stolle-Hofes, sondern auch die rechtmäßige Erbin eines zweiten Hofes, den sein Großvater Johann Diedrich Siemering in Grummersort bewirtschaftet. Beide Söhne haben somit die Perspektive, später auf eigenem Grund leben und arbeiten zu können. Wann und aus welchen Beweggründen heraus Rebecka Stolle dabei die Entscheidung trifft, dass Dietrichs Bruder in Hurrel bleiben soll, ist heute in der Familie nicht mehr bekannt. Es mag damit zu tun haben, dass im Dezember 1918 – also unmittelbar nach Kriegsende und Abdankung von Kaiser Wilhelm II. – ihre Stiefmutter Anna Mathilde stirbt und Vater Johann Diedrich in Grummersort über kurz oder lang Hilfe benötigt. Diese Aufgabe fällt Rebecka zu, und da Dietrich Ende 1918 erst zwölf Jahre alt ist, hält sie ihn in ihrer Nähe womöglich für besser aufgehoben.

Wie auch immer: Direkt nach Schulabschluss und Konfirmation im Frühjahr 1921 siedelt Dietrich mit seiner Mutter von Hurrel nach Grummersort über. Der Siemering-Hof ist zu diesem Zeitpunkt lediglich fünf Hektar groß, wovon aber drei Personen – sofern sie keine großen Ansprüche stellen –damals durchaus existieren können. Trotz Hyperinflation und späterer Weltwirtschaftskrise, die Millionen andere Bürger der ersten Republik auf deutschem Boden genauso treffen. Den Zusammenbruch der New Yorker Börse im Oktober 1929, der dem letztgenannten Ereignis vorausgeht, erlebt Dietrichs Großvater übrigens nicht mehr mit: Johann Diedrich Siemering stirbt im Februar 1927 im Alter von 82 Jahren.

Am neuen Wohnort fügt sich Dietrich recht schnell in die Gemeinschaft der Nachbarn ein. Unter anderem gehört er am 6. Oktober 1932 zu jenen 25 Männern, die im Gasthof „Zur Krone“ in Oberhausen die Freiwillige Feuerwehr Wüsting aus der Taufe heben. Zu diesem Zeitpunkt ist er sehr wahrscheinlich schon mit Hermine Duhme aus Tweelbäke liiert, die nur rund einen Kilometer vom Siemering-Hof entfernt als Magd auf dem Hof von Hermann Carstens arbeitet.

Dietrich und Hermine heiraten am 30. Mai 1933, auf den Tag vier Monate nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler. Die Weimarer Republik ist da längst Geschichte, abgelöst durch die Diktatur des NS-Staats. In die wird im Juli 1934 Tochter Gerda hineingeboren, im Februar 1938 dann Tochter Anni. Von da an dauert es bis zum durch den deutschen Überfall auf Polen provozierten Zweiten Weltkrieg nur noch etwas mehr als anderthalb Jahre. Ein Ereignis, das Dietrich schon bald von seiner Familie trennt: Anfang 1942 wird er zur Wehrmacht einberufen und zunächst im besetzten Teil Frankreichs eingesetzt. Danach ist er für längere Zeit in Northeim stationiert, einer ehemaligen Garnisonsstadt am Südrand des Harzes. Das Kriegsende erlebt Dietrich in der Nähe von Oldenburg, von wo aus er sehr schnell wieder nach Grummersort zurückkehrt und die Arbeit auf seinem Hof wieder aufnimmt.

Wachsen oder weichen? Eine Frage, der sich viele Landwirte angesichts des nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland rapide voranschreitenden Strukturwandels in ihrer Branche stellen müssen. Dietrich gelingt es lange Zeit erfolgreich, eine Antwort hinauszuzögern – indem er zwar einen Trecker anschafft, etwas Land zupachtet und neben dem bereits in den 30er Jahren errichteten Schweinestall einen neuen Kuhstall sowie einen Hühnerstall baut, ansonsten aber in ähnlichem Rahmen weiterwirtschaftet wie in seinen Anfangsjahren. Das funktioniert, weil bis zur Aufgabe 1988 letztlich nur er und Hermine von den Erträgen der Landwirtschaft leben müssen: Schwiegersohn Bernhard Neuhaus, 1963 auf den Hof gekommen und mit Tochter Anni verheiratet, arbeitet hauptberuflich als Landmaschinenschlosser. Die ältere Tochter Gerda ist schon 1957 ausgezogen und wohnt seit der Hochzeit auf dem Hof ihres Ehemannes Heino Molle in Vielstedt. Mutter Rebecka wiederum ist 1962 im Alter von 90 Jahren verstorben.

Zu Dietrichs erstem, im Januar 1959 geborenen Enkelkind Wolfgang gesellen sich in den nächsten zehn Jahren in Vielstedt und Grummersort mit Holger, Dieter, Sigrid, Frank und Silke fünf weitere. Ihnen widmet Dietrich von Beginn an viel Zeit, während öffentliche Veranstaltungen oder gar Reisen nicht so sehr seine Sache sind. Handwerkliches Arbeiten und der Umgang mit Holz faszinieren ihn dafür umso mehr – ein Hobby, das bei Dietrich auch im hohen Alter keinerlei Langeweile aufkommen lässt.

Nach der Goldenen Hochzeit im Mai 1983 feiert Dietrich mit Hermine zehn Jahre später auch Diamantene Hochzeit. Es ist der letzte gemeinsame Ehrentag: Hermine stirbt am 20. November 1993, Dietrich folgt ihr am 3. Januar 1994 im Alter von ebenfalls 87 Jahren. Beerdigt ist er vier Tage später auf dem Friedhof der St.-Dionysius-Kirche in Holle.