Claire Henni Wilhelmine Vèbre wird am 17. Oktober 1891 als fünftes Kind von Hermann Lüers und Mathilde Lüers in Hurrel geboren, damals noch unter ihrem deutschen Vornamen Clara. Sie ist die jüngere Schwester von Anna Runge, Katharine Dreischmeier, Diedrich Lüers und Rosa Buck und die ältere Schwester von Adele Raschen, Amalie Oldenburg und Martha Wachtendorf.
Drei Tage nach Claires Geburt verabschiedet die SPD auf ihrem Parteitag in Erfurt das Erfurter Programm. Darin versucht die Partei nach Aufhebung des Sozialistengesetzes im Jahr zuvor den Spagat zwischen Marxismus und Realpolitik. Der eher revolutionär ausgerichtete Flügel um den Philosophen Karl Kautsky geht von einer Zuspitzung des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat aus und fordert die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Demgegenüber will eine andere, von Eduard Bernstein angeführte Gruppe die Lage der Arbeiterschaft durch soziale Reformen schrittweise verbessern. Um beide Lager zu bedienen, hat der SPD-Vorstand um Paul Singer und August Bebel den Programm-Entwurf vor der Abstimmung in einen theoretischen und einen praktischen Teil gegliedert. Letzterer fordert unter anderem das Verbot von Kinderarbeit sowie die Einführung des Frauenwahlrechts und des Acht-Stunden-Tags.
In Europa nimmt die SPD mit dem Erfurter Programm eine Vorreiter-Rolle ein. Zwar gibt es mittlerweile in den meisten Ländern als politische Parteien aktive Arbeiterbewegungen. Oft stecken diese programmatisch aber noch in den Kinderschuhen oder sind stark zersplittert. In Frankreich etwa existieren Ende des 19. Jahrhunderts fünf verschiedene sozialistische Formationen unterschiedlichster marxistischer Ausprägung, die sich erst 1905 zur Section française de l’Internationale ouvrière (SFIO) zusammenschließen. Gleichwohl brechen – wie letztlich auch in der SPD – die Gegensätze zwischen den Flügeln immer wieder auf. Hinzu kommen unterschiedliche Auffassungen, wie die sozialistischen Parteien auf einen drohenden Krieg reagieren sollen. Während SFIO-Präsident Jean Jaurès Massenstreiks befürwortet, will August Bebel die Entscheidung von der konkreten Situation abhängig machen. Radikalere Kräfte – zu denen in der SPD insbesondere Rosa Luxemburg zählt – rufen hingegen dazu auf, den Krieg zur Revolution zu nutzen.
Von all diesen meist äußerst verbissen geführten Diskussionen bekommt Claire in ihren Kinder- und Jugendjahren vermutlich wenig mit. Noch bevor im August 1893 die nächstjüngere Schwester Adele geboren wird, verlässt sie mit der Familie ihr Geburtshaus an der Hurreler Straße, eine heute nicht mehr bestehende Hofstelle zwischen den Hausnummern 46 und 48, und zieht auf einen Pachthof in Immer. Um das Jahr 1903 herum geht es weiter nach Kirchkimmen, wo ihre Eltern fortan abermals einen Pachthof bewirtschaften. Zu diesem Zeitpunkt ist die ursprünglich Claires Großmutter Catharine Haverkamp gehörende Hurreler Hofstelle bereits an Gerhard Wieting verkauft. Dennoch dürfte Claire im Dorf weiter regelmäßig zu Gast sein – schließlich leben dort auf dem Haverkamp-Stammhof an der Pirschstraße (heute: Eike und Nathalie Haverkamp) ihre nur wenige Monate jüngere Kusine Klara Haverkamp und deren Brüder Johann, Georg und Bernhard.
Über die Jahre nach Konfirmation und Schulabschluss ist heute nur noch wenig bekannt. Eine erhalten gebliebene, an ihre jüngste Schwester Martha gerichtete Postkarte belegt allerdings, dass Claire – vermutlich als Dienstmädchen – bei einer Familie namens Boks in der Langenstraße in Bremen arbeitet. Die Karte trägt zwar kein Datum, aber da Empfängerin Martha (Jahrgang 1897) bereits selbst den elterlichen Hof verlassen hat und bei einer Firma Dinklage in Jaderberg wohnt, dürfte sie maximal zwei oder drei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 abgeschickt worden sein.
Der Weltkrieg, zu dessen ersten Opfern der am 31. Juli 1914 ermordete französische Sozialisten-Führer Jean Jaurès gehört, entzweit nicht nur Europas Völker. Er sprengt auch die internationale Arbeiterbewegung: Im Deutschen Reich stellt sich die SPD hinter Wilhelm II. und stimmt im Reichstag in Berlin geschlossen für die Aufnahme der vom Kaiser geforderten Kriegskredite. Entsprechend verhält sich eine breite Mehrheit der SFIO-Abgeordneten in Frankreich.
Andererseits ermöglicht der Krieg Verbindungen, die ohne ihn wohl kaum zustande gekommen wären. Eine davon ist jene von Claire mit ihrem künftigen Ehemann Jean Vèbre. Oder Johann Vebre, wie er im August 1914 trotz französischsprachigem Elternhaus noch heißt. Denn geboren ist Jean alias Johann im elsässischen Dorf Sainte-Croix-aux-Mines, das seit Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871 unter dem Namen Sankt Kreuz im Lebertal zu Deutschland gehört. Bei Kriegsbeginn wird er wie Tausende anderer Elsässer zur deutschen Armee eingezogen und gelangt so zum Reserve-Infanterie-Regiment 259 im von Bremen rund 90 Kilometer entfernten Militärlager Munster.
Bei welcher Gelegenheit Claire und Jean sich zum ersten Mal begegnen, ist nicht überliefert. Dasselbe gilt für den Zeitpunkt, an dem beide beschließen, ihr weiteres Leben in Frankreich zu verbringen. Wie schwer Claire die Entscheidung fällt, Heimat und Familie hinter sich zu lassen, darüber lässt sich nur spekulieren. Zum einen ist sie als Deutsche im nach Kriegsende wieder Frankreich zugeschlagenen Elsass wahrscheinlich nicht überall gerne gesehen. Zum anderen bietet ihr die Dritte Französische Republik aber mit einiger Sicherheit bessere Lebensbedingungen als die dem Diktatfrieden von Versailles unterworfene Weimarer Republik. In der Jean wohl ebenfalls kaum glücklich geworden wäre, denn spätestens nach der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen im Januar 1923 verstärken sich rechts des Rheins die gegen die westlichen Nachbarn seit Generationen gehegten Ressentiments noch einmal.
Wie auch immer: Vielleicht schweißt gerade die Ablehnung in Teilen ihres jeweiligen Umfelds Claire und Jean in den ersten Nachkriegsjahren noch weiter zusammen. Und obwohl Claires Bruder Diedrich im September 1915 an der Westfront gefallen ist, bleibt nach dem Tod der Eltern 1921 beziehungsweise 1923 der Kontakt zu ihren Schwestern Informationen aus der Familie zufolge rege und gut.
Nach der am 21. August 1920 gefeierten Hochzeit lassen sich Claire und Jean in Straßburg nieder, wo sie eine Wohnung in der Rue de Temple Neuf beziehen und Jean fortan als Buchhalter arbeitet. Anfang der 1930er Jahre ziehen sie ins 40 Kilometer südwestlich gelegene Schirmeck. Betrachtet man die raren Fotos aus jener Lebensphase, so scheint es Claire und Jean in Schirmeck wirtschaftlich alles andere als schlecht zu gehen. Eines davon zeigt das noch immer verliebt wirkende Paar 1933 im Sommerurlaub an der Côte d’Azur – zu einem Zeitpunkt also, an dem in Deutschland bereits die Nationalsozialisten die Macht an sich gerissen haben.
Was Deutschlands verhängnisvoller Weg in den NS-Staat nur wenige Jahre später auch im Elsass anrichtet, erlebt Claire nicht mehr mit. Sie stirbt am 12. März 1934 im Alter von nur 42 Jahren nach kurzem Aufenthalt im Straßburger Krankenhaus La Toussaint. Erzählungen aus der Familie zufolge litt sie unter ihrer Kinderlosigkeit und wollte durch eine dann offenbar misslungene Operation Abhilfe schaffen. Beerdigt ist Claire drei Tage nach ihrem Tod auf dem Friedhof Sainte Hélène.