Anna Catharine Mette Schwarting wird am 23. März 1860 als drittes Kind von Diedrich Scharf und Josepha Scharf in Hollen bei Ganderkesee geboren. Sie ist die jüngere Schwester von Franz Hinrich Scharf und Magdalene Scharf und die ältere Schwester von Gerhard Hinrich Scharf, Aline Schröder, Wilhelmine Schnitger, Adolph Heinrich Scharf, Josepha Catharine Ahrens und Johann Diedrich Scharf.
Elf Tage nach Annas Geburt nimmt in Saint Joseph im US-Bundesstaat Missouri der Pony-Express seinen Betrieb auf. Der neue Kurierdienst beschäftigt rund 120 Reiter, die fortan Briefe von den erschlossenen Siedlungsgebieten östlich des Missouri River und des Mississippi in die kalifornische Hauptstadt Sacramento und zurück bringen. Entlang der rund 3.200 Kilometer langen Strecke durch die Rocky Mountains und die lebensfeindlichen Wüsten des amerikanischen Südwestens haben die Betreiber mehr als 180 Stationen eingerichtet, an denen weiteres Personal jeweils frische Pferde bereithält. Nach 120 bis 160 Kilometern steigt dann auch ein neuer Kurier in den Sattel. Dadurch verkürzt sich die Brieflaufzeit zwischen den Endpunkten auf im Durchschnitt zehn bis elf Tage. Zuvor konnte es bis zu sechs Wochen oder länger dauern – wenn denn die Postkutsche, die sich auf den beschwerlichen Weg durch die Wildnis gemacht hatte, überhaupt ankam und nicht irgendwo unterwegs von Indianern oder Banditen überfallen worden war.
Am 14. April 1860 um ein Uhr morgens erreichen die ersten vom Pony-Express transportierten Briefe ihr Ziel, von den in Sacramento wartenden Menschen mit einem Freudenfeuer empfangen. Die Bevölkerung Kaliforniens hat sich in den Jahren des Goldrausches vervielfacht, von weniger als 100.000 Einwohnern auf inzwischen fast 400.000 Einwohner. Sie möglichst rasch über aktuelle politische Entwicklungen zu informieren, ist der vorrangige Auftrag der meist jugendlichen Reiter. Rein private Schreiben sind dagegen eher die Ausnahme – kostet ein per Express beförderter Brief doch mit 5 Dollar in etwa so viel, wie ein ungelernter Arbeiter damals durchschnittlich im Monat verdient.
Letztlich hält sich der Pony-Express nur 18 Monate über Wasser. Den Todesstoß versetzt ihm weder die katastrophale betriebswirtschaftliche Bilanz – Einnahmen von 90.000 Dollar stehen Ausgaben von 200.000 Dollar gegenüber – noch der im Frühjahr 1861 ausbrechende Amerikanische Bürgerkrieg. Es ist der technische Fortschritt: Ab dem 24. Oktober 1861 macht die zwischen Ost- und Westküste fertiggestellte Telegrafen-Verbindung die erst im Jahr zuvor eingerichtete Dienstleistung schlicht überflüssig. Der Mythos von Freiheit und Abenteuer, der den Pony-Express bis heute umgibt, entsteht erst viele Jahre später. Dazu trägt maßgeblich der eigenen Angaben zufolge an vorderster Front mitreitende Bison-Jäger William Frederick Cody bei, besser bekannt als Buffalo Bill. Cody glorifiziert diese frühe, bis heute nicht eindeutig belegte Phase seines Lebens unter anderem in der von ihm 1883 gestarteten „Wild West Show“.
Freiheit und Abenteuer – davon können die meisten Menschen in Annas Umgebung im Frühjahr 1860 nur träumen. Das gilt nicht zuletzt für Mutter Josepha, die in bis dato 25 Lebensjahren gleichwohl schon mehr erlebt hat als mutmaßlich alle ihre Nachbarn zusammen. Ende Mai 1835 im zu Österreich-Schlesien gehörenden Dorf Neu-Kaltenstein geboren, wandert sie als 19-Jährige gemeinsam mit ihren Eltern in die USA aus. Auf der Überfahrt lernt Josepha den aus der Gemeinde Ganderkesee stammenden Schiffskoch Diedrich Scharf kennen, in dessen Begleitung sie sich bei der Ankunft heimlich von Bord schleicht. Am 19. November 1854 heiraten beide in Baltimore und kehren anschließend nach Europa zurück. Während Diedrich fortan wieder zur See fährt, richtet sich Anna mit ihrem im August 1855 zur Welt gekommenen Sohn Franz Hinrich im Heuerhaus der offenbar wenig liebevollen Schwiegermutter in Hollen ein. Ein weitgehend freudloses und im Vergleich zu ihren früheren Verhältnissen ungewohntes Leben, das Josepha – so jedenfalls erzählt sie es später ihren Enkelkindern – anfangs „Eimer voll Tränen“ weinen lässt.
Kein sehr heimeliges Umfeld also, in dem Anna in den folgenden Jahren aufwächst. Ihren Vater bekommt sie bei dessen Stippvisiten immer nur kurz zu Gesicht, dafür wächst die Familie zwischen 1861 und 1873 um sechs weitere Kinder. Bis auf den 1869 geborenen Bruder Adolph Heinrich, der nur zwölf Jahre alt wird, erreichen alle das Erwachsenenalter und besuchen wie Anna die nahegelegene Volksschule in Grüppenbühren.
Ihren künftigen, nur wenig älteren Ehemann Bernhard Schwarting lernt Anna wahrscheinlich schon vor der Einschulung kennen – seine Eltern bewirtschaften wenige hundert Meter entfernt einen der größten Höfe der Umgebung. Gut möglich, dass Anna dort in späteren Jahren als Erntehelferin etwas hinzuverdient oder nach Schulentlassung und Konfirmation vielleicht sogar als Magd in Stellung geht. Wie auch immer: Anna und Bernhard heiraten am 27. April 1883 in Ganderkesee. Da Bernhard als ältester Sohn bei der Hofnachfolge einem seiner jüngeren Brüder den Vortritt lassen muss, ziehen beide nach der Hochzeit nach Lintel, wo Bernhards Onkel Bernhard Friedrich Schwarting 1857 in den früheren Hof von Lüer Schröder eingeheiratet ist (heute: Georg Hollmann).
In Lintel bringt Anna vier Kinder zur Welt: Sophie (Dezember 1883), Diedrich (Januar 1887), Heinrich (September 1888) und Friedrich (Mai 1890). Zwischen Sophies und Diedrichs Geburt erreicht sie im Januar 1885 die Nachricht, dass ihr nach wie vor zur See fahrender Vater in einem Krankenhaus der walisischen Hafenstadt Cardiff verstorben ist. Nur dreieinhalb Wochen später stirbt in Hollen nach kurzer, aber gemäß Traueranzeige heftiger Krankheit auch Annas 23-jähriger Bruder Gerhard Hinrich. Ob Anna und Bernhard zu diesem Zeitpunkt in Lintel als Heuerleute arbeiten oder ob der Hof von Bernhards Onkel ihnen bereits gehört, liegt heute weitgehend im Dunkeln. Trotz fünf erbberechtigter Kinder aus der Ehe mit Anna Gesina Schröder kommt es der Linteler Chronik von Walter Janßen-Holldiek zufolge irgendwann zwischen 1883 und 1890 zum Eigentümerwechsel – möglicherweise ist Bernhard Friedrich Schwarting aus einem finanziellen Engpass heraus gezwungen, seinen Besitz an Bernhard und Anna zu verkaufen.
Ebenfalls nicht mehr restlos aufklären lässt sich 125 Jahre später, warum Bernhard und Anna ihren relativ gut gelegenen und ausgestatteten Hof 1896 erneut verkaufen und stattdessen nach Hurrel ziehen. Der von den Erben des Australien-Rückkehrers Johann Berend Vogt übernommene Hof am Hesterort (heute: Heiko und Anieka Schwarting) ist zwar mit 36 Hektar deutlich größer, besteht aber fast ausschließlich aus bislang nicht kultiviertem Heideland. Vielleicht gibt es für diesen Schritt ebenfalls handfeste finanzielle Gründe, vielleicht sieht Bernhard auch das langfristige Potenzial, das in dem neuen Eigentum steckt. Oder ist Anna die treibende Kraft für den Wechsel? Ihre Kinder beschreiben sie später den eigenen Nachfahren gegenüber als sehr dominant und zupackend. Bernhard dagegen bleibt als eher ruhig und zurückhaltend in Erinnerung.
Den Anfang Mai 1896 vollzogenen Umzug bewältigt Anna hochschwanger, drei Wochen später macht Tochter Johanne die Familie komplett. Die folgenden Jahre sind geprägt von harter Arbeit: Hektar für Hektar wandeln Anna und Bernhard die Wildnis in Weide- und Ackerland um. Dabei müssen selbstverständlich auch die Kinder mit anpacken – die älteren intensiver als die jüngeren. Vielleicht ist das der Grund, warum Anna sich in der Frage der Hof-Nachfolge trotz des in Hurrel geltenden Jüngstenrechts frühzeitig auf den ältesten Sohn Diedrich festlegt.
Als diese Entscheidung fällt, hat die älteste Tochter Sophie den elterlichen Hof vermutlich bereits verlassen: Sie heiratet im Mai 1906 Hermann Grummer und zieht auf den Hof ihres Schwiegervaters Johann Grummer in Altmoorhausen (heute: Henning Struthoff). Die aus Sophies Ehe hervorgehenden Töchter Alma (Februar 1907) und Hermine (Mai 1909) sind Annas erste Enkelkinder. Derweil hat der zweitälteste Sohn Heinrich erfolgreich das Evangelische Lehrerseminar in Oldenburg abgeschlossen und seine erste Stelle an der Volksschule in Tweelbäke angetreten. Auch der jüngste Sohn Friedrich strebt, nachdem er die erste Enttäuschung über seine Ausbootung als Hoferbe überwunden hat, die Lehrer-Laufbahn an. Er beendet die dafür nötige Ausbildung im März 1913 – sieben Monate vor Heinrichs Hochzeit mit Erna Dierßen aus Hude, die im April 1914 Annas dritte Enkeltochter Erika zur Welt bringt.
Der Anfang August 1914 ausbrechende Erste Weltkrieg leitet eine für Anna wie für Millionen andere Menschen schwere Zeit ein. Alle drei Söhne werden zur kaiserlichen Armee eingezogen, überdies stirbt im Dezember 1916 Annas Mutter Josepha. Heinrichs im Oktober 1916 geborener Sohn Günther lebt nur sieben Monate, kurz nach dem Tod des Enkels legt in Altmoorhausen ein Blitzschlag den Hof von Schwiegersohn Johann Grummer in Schutt und Asche. Sophie und ihre beiden Töchter finden daraufhin vorübergehend Unterschlupf auf dem Schwarting-Hof in Hurrel. Immerhin: Diedrich, Heinrich, Friedrich und auch Johann Grummer kehren heil aus dem mit Kaisersturz und Ausrufung der Republik endenden Krieg zurück. Fünf Monate zuvor hat Friedrich Hertha Bath geheiratet, die Tochter eines Braker Tabak-Fabrikanten.
In politisch wie wirtschaftlich schwierigen Zeiten feiert Anna mit Ehemann Bernhard zwei weitere Hochzeiten: Im Oktober 1920 heiratet Hoferbe Diedrich Annchen Hollmann aus Lintel, im August 1921 Tochter Johanne Georg Dählmann aus Hude. Mit Diedrichs Tochter Anneliese (August 1921), Heinrichs Sohn Heino (November 1921) und Sophies Sohn Bernhard (Januar 1922) kommen fast im Monatstakt neue Enkelkinder hinzu. Die Geburt von Friedrichs Tochter Gisela im Mai 1922 erlebt Anna dann bereits als Witwe: Bernhard ist vier Wochen zuvor nach längerer Krankheit im Alter von nur 62 Jahren verstorben.
Dass Anna in den folgenden Jahren zunächst voll in die Bewirtschaftung des von ihr mit aufgebauten Hofes eingebunden bleibt, dürfte sie von ihrem Schmerz ablenken – ebenso wie die Geburt weiterer Enkel. Neben Anneliese sieht sie mit Diedrichs Kindern Heinrich (Februar 1923), Bernhard (April 1924) und Gisela (Juli 1925) drei davon in unmittelbarer Nähe aufwachsen. Die zweite Hälfte der 20er Jahre markieren überdies eine Phase, in der der Schwarting-Hof durch die wieder aufgenommene Kultivierung und den vermehrten Einsatz von Kunstdünger überdurchschnittlich prosperiert. Für die steigende Zahl der gehaltenen Tiere werden gleich mehrere Neubauten fällig.
Als 1934 auch das Wohnhaus einen neuen seitlichen Anbau erhält, regieren in Deutschland bereits die Nationalsozialisten. Ein Machtwechsel mit fatalen Folgen, der letztlich mehrere Mitglieder aus Annas Familie das Leben kosten wird. Was sie selbst nicht mehr miterleben muss: Anna stirbt am 29. März 1940 unmittelbar nach ihrem 80. Geburtstag und wird fünf Tage später auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude beerdigt.