Anna Lange wird am 12. März 1895 als zehntes Kind von Albert Hinrich Vosteen und Anna Catharine Sophie Vosteen auf dem elterlichen Hof in Steinkimmen (heute: Egon und Gudrun Schröder) geboren. Sie ist die jüngere Schwester von Sophie Mathilde Schröder, Mathilde Adeline Vosteen, Johann Diedrich Vosteen, Heinrich Friedrich Vosteen, Johann Heinrich Vosteen, August Diedrich Vosteen, Alma Rüdebusch, Martha Christine Nienstermann und Meta Friederike Witte.
In den beiden Wochen nach Annas Geburt gehen gleich drei Ereignisse als Weltpremiere in die Geschichtsbücher ein. Zweien davon ist anfangs allerdings kein großer Erfolg beschieden – noch ist die Zeit ganz einfach nicht reif dafür. Das gilt insbesondere für jenes Spektakel, das am 23. März 1895 der Überlieferung zufolge mehr als 10.000 Zuschauer anzieht: Zum allerersten Mal stehen sich auf einem Sportplatz im Londoner Stadtteil Crouch End zwei nach den Regeln der englischen Football Association spielende Frauen-Fußballteams gegenüber. Beide sind vom British Ladies‘ Football Club aufgestellt, das Team „Nord“ schlägt Team „Süd“ mit 7 zu 1 Toren.
Obwohl die Reaktion der Zuschauer eher spöttisch ausfällt, bestreitet das Team, dessen Mitglieder sich auch für das Frauenwahlrecht stark machen, in den folgenden Jahren weitere Show-Wettkämpfe. Letztlich scheitert es jedoch außer an Geldmangel auch an der in der Öffentlichkeit weit verbreiteten Meinung, dass Frauen in einem so rauen Sport wie Fußball nichts zu suchen haben. Eine Meinung, die sich noch mehr als 70 Jahre lang halten soll – insbesondere in Deutschland.
Auch die Pionier-Tat der Netphener Omnibusgesellschaft, ab dem 18.März 1895 als weltweit erster Anbieter einen mit einem Benzinmotor betriebenen Bus im regulären Linienverkehr einzusetzen, kommt nicht richtig aus den Startlöchern. Für die 15 Kilometer lange Strecke von Siegen über Netphen nach Deuz mit fünf Haltestellen und 80 Meter Höhenunterschied benötigt der von Carl Benz gelieferte Omnibus eine Stunde und 20 Minuten. Das 3,50 Meter lange und 2 Meter breite Fahrzeug bietet Platz für maximal zehn Personen, die Tickets kosten zwischen 60 und 75 Pfennig. Aufgrund von technischen Schwierigkeiten stellt die Gesellschaft den Betrieb schon im Dezember 1896 wieder ein und kehrt zum Pferde-Omnibus zurück.
Demgegenüber gewinnt eine am 22. März 1895 erstmals präsentierte Erfindung von Auguste und Louis Lumière in den folgenden Jahren rasch an Bedeutung: der Kinematograph. Der damit aufgenommene und auch wiedergegebene Kurzfilm „Arbeiter verlassen die Lumière-Werke“ gilt heute als wohl bekanntestes Beispiel der frühen Filmgeschichte. Nur zwei Jahre später verkaufen die Brüder ihre gesamten in diesem Geschäftszweig angesammelten Rechte und Patente an den Unternehmer Charles Pathé, der fortan mit großem Erfolg die Kommerzialisierung des neuen Mediums vorantreibt.
Zu diesem Zeitpunkt ist Anna in Steinkimmen bereits Halbwaise. An ihre 1896 verstorbene Mutter dürfte sie deshalb kaum bewusste Erinnerungen haben. Sehr wahrscheinlich wächst sie in der Obhut ihrer bereits 1876 und 1877 geborenen Schwestern Sophie Mathilde und Mathilde Adeline auf, denn im Kirchenbuch der Gemeinde Ganderkesee findet sich kein Hinweis darauf, dass Albert Hinrich Vosteen erneut heiratet. Zusammen mit der nur zwei Jahre älteren Schwester Meta Friederike besucht Anna vermutlich ab 1901 die nur drei Jahre zuvor neu errichtete Volksschule Steinkimmen. Kurz nach Schulabschluss und Konfirmation stirbt dann 1909 auch ihr Vater. Anschließend arbeitet sie in einem Haushalt in der näheren Umgebung – wo genau, ist in der Familie allerdings nicht mehr bekannt.
Wann und wo Anna ihren künftigen Ehemann Georg Lange aus Hurrel kennenlernt, liegt heute ebenfalls im Dunkeln. Beide heiraten 1920, kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs. Annas Schwiegereltern Johann und Marie Lange führen an der Pirschstraße einen rund 15 Hektar großen Hof (heute: Helmut und Linda Braun). Dort wachsen in den folgenden Jahren die 1921 und 1925 geborenen Töchter Lily und Wilma auf.
Der Todestag von Johann Lange – er stirbt am 30. Januar 1933 – beschert der von Weltwirtschaftskrise und immer stärkerer politischer Radikalisierung gebeutelten Weimarer Republik eine historische Zäsur: Am selben Tag nämlich ernennt in Berlin Reichspräsident Paul von Hindenburg den NSDAP-Führer Adolf Hitler zum Reichskanzler, der Weg in die Diktatur des Dritten Reiches beginnt. Als im Juli desselben Jahres auch Annas Schwiegermutter Marie stirbt, ist dieser Weg angesichts des im März 1933 vom Reichstag verabschiedeten Ermächtigungsgesetzes bereits so gut wie unumkehrbar. Sechs Jahre später führt er direkt in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs.
Anna und Georg überstehen die Katastrophe einigermaßen unbeschadet, obwohl Georg Anfang 1945 noch zum Volkssturm einberufen wird und bei der an der Ahnenstätte Hilligenloh stationierten Flugabwehr Dienst tun muss. Hans Witte, der aus Tweelbäke stammende Ehemann von Tochter Lily, gerät derweil in Frankreich in Gefangenschaft und kehrt erst 1948 nach Hause zurück. Bis dahin lebt Lily mit ihrer im Dezember 1942 geborenen Tochter Helga weiter auf dem Lange-Hof und hilft bei dessen Bewirtschaftung.
Noch vor der Rückkehr von Hans Witte steht im Hause Lange die nächste Hochzeit an: Am 28. November 1947 heiratet Lilys jüngere Schwester Wilma den aus Hinterpommern vertriebenen Flüchtling Artur Braun. Dadurch wächst die Zahl der Bewohner auf dem Lange-Hof weiter. Neben Artur zieht dort nämlich auch dessen Vater Reinhard Braun ein, der nach dem Besuch der Hochzeitsfeier nicht mehr mit Arturs jüngerem Bruder Kurt ins sowjetisch besetzte Vorpommern zu seinen dort untergekommenen Töchtern Hildegard Lemm und Erna Graffunder zurückreist.
Am 23. Mai 1948 präsentieren dann Artur und Wilma den stolzen Großeltern ihren ersten Sohn Egon. Bis Dezember 1950 folgen mit Horst Witte und Helmut Braun zwei weitere Enkel. Zu dieser Zeit wohnen Hans und Lily mit den Kindern allerdings bereits bei Diedrich und Minna Schmidt an der Hurreler Straße.
Weil es der nun aus sieben Personen bestehenden Familie auf Dauer zu eng wird, nehmen Artur und Georg 1957 den Bau eines neuen Wohnhauses in Angriff. Dabei hilft auch Anna nach Kräften, auch wenn sie nach einem Sturz und dem dabei erlittenen doppelten Bruch eines Fußes seit Anfang der 50er Jahre nur noch wenig belastbar ist. Lange Zeit trägt sie deshalb einen speziellen orthopädischen Schuh. Später baut Dorfschmied Heino Borgmann ihr einen Laufwagen, der sie zumindest notdürftig mobil hält.
Fehlende Bewegung und mangelnde Beweglichkeit fordern auch an anderer Stelle ihren Tribut: Mit zunehmendem Alter leidet Anna an Atherosklerose, an deren Folgen sie am 12. Dezember 1969 stirbt – nur wenige Monate vor ihrer Goldenen Hochzeit mit Georg. Beerdigt ist sie vier Tage später auf dem Friedhof der St. Elisabeth-Kirche in Hude.