Anna Kulz – Biographie

Anna Kulz wird am 28. Dezember 1904 im ostbrandenburgischen Vietnitz (Kreis Königsberg in der Neumark) geboren. Die Namen ihrer Eltern und die ihrer fünf Geschwister sind heute in der Familie nicht mehr bekannt.

In den Wochen vor Annas Geburt erleben viele Tausende von Menschen im Deutschen Reich ein völlig neues Einkaufsgefühl. Gleich in mehreren Großstädten nämlich haben Warenhaus-Unternehmer wie Georg Wertheim, Theodor Althoff oder Hermann Tietz pünktlich zum Weihnachtsgeschäft neue Kaufhäuser errichtet oder bereits bestehende Konsumpaläste mit mondänen Anbauten versehen.

Ein Parade-Beispiel ist das am 7. Dezember 1904 eröffnete Kaufhaus Althoff in Dortmund: Es umfasst eine Fläche von mehr als 4.000 Quadratmetern und beschäftigt fast 500 Angestellte. Zum ersten Mal in einem deutschen Warenhaus dieser Größe gibt es auch Lebensmittel zu kaufen – von Grundnahrungsmitteln wie Brot und Kartoffeln über frisches Obst und Gemüse bis hin zu Delikatessen wie Hummer in Dosen oder lebende Tauben. Am Morgen des Eröffnungstages haben die um das Gebäude herum postierten Polizeibeamten alle Mühe, das Heer der Schaulustigen zu bändigen und für einen geordneten Einlass zu sorgen.

Der Anbau des Kaufhauses Wertheim am Leipziger Platz in Berlin wiederum setzt vor allem optisch Maßstäbe und muss einen Vergleich mit berühmten Vorbildern wie dem Harrods in London oder dem Grands Magasins Dufayel in Paris nicht scheuen. Das verdeutlicht ein am 29. Dezember 1904 erschienener Artikel der „Illustrierten Zeitung“: „Der äußeren Erscheinung würdig ist der innere Ausbau des Hauses, in dem ein gewaltiger, in Marmor und Gold gehaltener, von bronzenen Brücken überspannter Lichthof von 700 Quadratmeter Grundfläche mit seinen Treppen und Galerien sowie ein hoher, mit reichen Schnitzereien in Nussbaumholz ausgestatteter Teppichsaal die Glanzpunkte bilden.“

Es gibt freilich auch Kritik an der schönen neuen Glitzerwelt. In Dortmund etwa protestieren zahlreiche lokale Einzelhändler gegen die unliebsame Konkurrenz. Und das sozialdemokratische Zentralorgan „Vorwärts“ trauert dem althergebrachten Weihnachtsmarkt nach, „mit seinem in unserer Kinderzeit uns so reizvoll erschienenem Trubel, seinem Budenpark, seinen mehr oder weniger witzigen Händlern und ihren altmodischen Weihnachtsartikeln“. Stattdessen zögen nun „schwarze Menschenmassen“ an den „breiten lichtstrahlenden Auslagen“ der Kaufhäuser vorüber.

Dass Anna in ihrer Kindheit Derartiges zu sehen bekommt, ist eher unwahrscheinlich. Dafür liegt ihr Geburtsort zu sehr in der Provinz – auch wenn es bis zur Reichshauptstadt Berlin nur rund 100 Kilometer sind. Wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast überall östlich der Oder dominiert die Landwirtschaft, Annas Eltern gehören zu den Bediensteten des mehr als 2.000 Hektar großen Rittergutes Vietnitz.

Nach Ende des Ersten Weltkriegs – den ihr Vater als Mitglied eines Husaren-Regiments unbeschadet übersteht – zieht es Anna rund 35 Kilometer südlich nach Bärwalde, wo sie zunächst in einem Haushalt arbeitet. Dort lernt sie ihren späteren Ehemann Fritz Kulz kennen, den sie Weihnachten 1929 heiratet. Am 22. Oktober 1930 kommt Sohn Gerhard zur Welt, am 16. Januar 1934 der zweite, ebenfalls auf den Rufnamen Fritz getaufte Sohn.

Wie Annas Eltern arbeitet auch ihr Ehemann auf einem Gutshof, der sich vor den Toren der Stadt über viele Hektar erstreckt. Damit ist es im Spätsommer 1939 jedoch schlagartig vorbei: Unmittelbar mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September erhält Fritz seine Einberufung zur Wehrmacht und nimmt in den folgenden Wochen am Polen-Feldzug teil. Im späteren Verlauf des Krieges ist er auch beim Angriff auf die Sowjetunion an vorderster Front dabei. Der Vormarsch bringt ihn bis in die Nähe von Smolensk, wo er am 9. Oktober 1941 bei einem Angriff russischer Partisanen sein Leben verliert.

Nach Erhalt dieser traurigen Nachricht wohnt Anna mit den beiden Kindern weiter in Bärwalde. Drei Jahre später bekommt sie die Schrecken des Krieges dann am eigenen Leibe zu spüren: Anfang 1945 rückt die Front immer näher, am 1. Februar stehen russische Panzer vor der Stadt und nehmen sie weitgehend kampflos ein. Am 12. Februar erhalten alle Bewohner den Befehl, Bärwalde Richtung Osten zu verlassen. Anna packt das Nötigste auf einen Handwagen und zieht mit Gerhard, Fritz, ihrer Schwiegermutter und weiteren Verwandten ihres Ehemannes ins 60 Kilometer entfernte Landsberg.

Ende April 1945 geht der Krieg in der Region zu Ende. Anna kehrt mit ihrer Familie nach Bärwalde zurück und lebt für einige Wochen wieder in der alten Wohnung. Den Kontakt zu ihren Eltern in Vietnitz hat sie zu diesem Zeitpunkt bereits verloren. Was genau den beiden in der Zwischenzeit widerfahren ist und wie sie zu Tode gekommen sind, wird Anna bis an ihr Lebensende nicht erfahren.

Anfang Juli 1945 kommt Bärwalde unter polnische Verwaltung. Die in den Wochen zuvor zurückgekehrten Einwohner müssen die Stadt ein zweites Mal verlassen – dieses Mal in Richtung Westen und für immer. Anna überquert mit einem Ruderboot die Oder und schlägt sich mit ihren Kindern und den anderen Verwandten zu Fuß bis nach Spandau durch, wo die Familie vorübergehend Aufnahme in einem ehemaligen SS-Lager findet. Anfang Dezember geht die Flucht bei klirrender Kälte in einem unbeheizten Viehwaggon weiter. Nach einem längeren Halt östlich der Elbe und einem Zwischenstopp in der Lüneburger Heide heißt die vorläufige Endstation Oldenburg.

Weil Anna bei der Verteilung der Flüchtlinge vor Ort darauf beharrt, nicht in der Stadt, sondern auf einem der umliegenden Dörfer untergebracht zu werden, landet sie mit Fritz auf dem Hof von August und Berta Schmerdtmann in Hurrel. Für Gerhard reicht der Platz dort nicht: Er verbringt den Winter und die folgenden beiden Jahre bei August und Margarethe Scholz in Lintel. Annas Schwiegermutter ist derweil weitergezogen ins ostfriesische Esklum, wo später auch zwei von Annas Schwägerinnen mit ihrer Familie eintreffen.

Als im Spätsommer 1946 August und Bertas Sohn Adolf Schmerdtmann aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt und mit ihm auch Adolfs zu dieser Zeit bei ihrer Schwester Anni Schwarting lebende Ehefrau Frieda, wechseln Anna und Fritz kurzerhand in das freigewordene Zimmer auf dem Schwarting-Hof (heute: Gerd und Ute Schwarting). Nachdem Fritz dort ausgezogen ist – er arbeitet ab Herbst 1952 im Rahmen seiner landwirtschaftlichen Ausbildung auf dem Hof von Heinrich Blankemeyer in Vosteen – zieht Anna in die damals überwiegend von Vertriebenen bewohnte Ladillensiedlung nach Hude, später dann nach Nordenholz und Vielstedt und wieder zurück nach Hude in die Glatzer Straße. Dort lebt sie jeweils sehr zurückgezogen bis kurz nach ihrem 95. Geburtstag.

Erst kurz vor ihrem Tod muss Anna ihre eigene Wohnung aufgeben. Fortan wird sie von Fritz und Ehefrau Ilse auf deren Hof in Nordenholz gepflegt. Dort stirbt Anna am 30. August 2000 an Altersschwäche. Beerdigt ist sie wenige Tage später in Hude auf dem Friedhof der St. Elisabeth-Kirche.