… von Manfred Birth
Aufgezeichnet im Oktober 2016
Die Erinnerungen an meine Großmutter Minna Fenske reichen zurück bis in jene Zeit, in der wir noch in Ostpreußen wohnten. Sie war eine sehr bestimmende Persönlichkeit. Da sie in Masuren geboren und aufgewachsen ist, gab es viele Kontakte zu den polnischen Nachbarn, die oft als Erntehelfer in Masuren arbeiteten. Daher lernte sie deren Sprache und beherrschte sie perfekt. Das bekam – wie in ihrem Lebenslauf geschildert – ein Beamter der polnischen Kommandantur zu spüren, als meine Großmutter sich dort im Herbst 1947 lautstark über jenen Mann beschwerte, der ihren Hof begehrte. Geholfen hat es freilich nichts, am Ende blieb ihr nur, im Alter von 55 Jahren mit den beiden Töchtern und drei Enkelkindern die Heimat zu verlassen.
Von ihrer Zweisprachigkeit machte meine Großmutter auch später noch hin und wieder Gebrauch. In Edewecht lebte zum Beispiel eine andere Familie aus unserer Gegend, die uns regelmäßig in Hurrel besuchen kam. Wenn die Erwachsenen in manchen Gesprächssituationen nicht wollten, dass ich sie verstehe, unterhielten sie sich auf Polnisch.
Meine Großmutter konnte sehr gut mit dem Spinnrad umgehen. Ein Bauer in der Nachbarschaft besaß Schafe, die er geschoren hatte. Da er aber niemanden hatte, der ihm die Wolle spinnen konnte, bat er meine Großmutter, für ihn zu arbeiten. Für uns war das ein Segen. Wir gingen morgens mit leerem Magen zu dem Bauern, frühstückten dort sehr gut, es gab Bratkartoffeln mit Speck, und dann setzte sich meine Großmutter an das Spinnrad, während ich den Bauernhof erkundete. Mittag- und Abendessen erhielten wir auch, so dass man heute sagen würde, wir hatten Vollpension. In der Rauchkate, in der wir in den ersten Monaten nach unserer Ankunft in Hurrel wohnten, hatten wir nur einen kleinen Herd, auf dem zwei Hausfrauen kaum zusammen eine richtige Mahlzeit kochen konnten. Außerdem hatten wir auch nur wenige Nahrungsmittel, die wir auf Lebensmittelmarken zugeteilt bekamen.
Als wir 1949 unsere Baracke bezogen hatten, wurde ich von meiner Großmutter versorgt, wenn meine Mutter als Tagelöhnerin arbeitete (siehe Persönliche Erinnerungen an Grete Birth). Gelegentlich war ich mit ihrem Essen nicht einverstanden, denn sie kochte häufig Suppen mit vielen Kräutern wie Majoran, Petersilie oder Zwiebeln.
Meine Großmutter besaß lediglich die für ihre Zeit übliche Schulbildung, aber sie achtete sehr gewissenhaft darauf, dass ich meine Schularbeiten machte. So fragte sie mich regelmäßig englische Vokabeln ab, obwohl sie gar kein Englisch verstand. Sie prüfte nur, ob ich die Worte schnell übersetzen konnte. War dies nicht der Fall, musste ich die Vokabeln in Deutsch und Englisch abschreiben. Sie achtete auch sehr darauf, dass ich erst meine Schulkleidung mit der Kleidung von zu Hause wechselte, die sehr einfach war. Ohne vorher die Hausaufgaben zu erledigen durfte ich nicht nach draußen zum Spielen.
Alle im Haushalt hatten großen Respekt vor meiner Großmutter, unter ihrer Resolutheit litten mitunter die anderen Bewohner. Erst als sie 1969 mit meiner Mutter zu mir nach Gifhorn zog, änderte sich das Verhältnis. In Gifhorn fühlte sie sich in ihrer Oberwohnung sehr wohl und erfreute sich am Aufwachsen meiner Töchter Birgit und Bettina. Dabei entwickelte sich eine besonders herzliche Verbindung zur jüngeren Ur-Enkelin Bettina.
Nachdem meine Großmutter 1981 einen Oberschenkelhalsbruch gut überstanden hatte, veränderten später einige Schlaganfälle ihr Leben und sie wurde zum Pflegefall. Später kam noch Demenz hinzu. In der ersten Zeit kam bei Demenz-Anfällen immer meine Mutter zu uns herunter und bat Bettina, raufzukommen. Anfangs gelang es meiner Tochter dann noch, ihre Ur-Oma in die reale Welt zurückzuholen.
Am 11. Januar 1986 ist meine Großmutter friedlich eingeschlafen. Zu ihrer Beerdigung an der Seite meines Großvaters in Beiseförth bin ich allein mit meinen beiden Töchtern gefahren: Meine Frau konnte leider nicht am Begräbnis teilnehmen, da sie in Melverode bei Braunschweig an der Bandscheibe operiert wurde.