Persönliche Erinnerungen an Grete Birth

… von Manfred Birth

Aufgezeichnet im Oktober 2016

Grete Birth war meine Mutter, mit Ausnahme meiner Ausbildungs- und Studienzeit habe ich sie bis zu ihrem Tod im März 1991 fast immer in meiner Nähe gehabt. Beginnen möchte ich meine Erinnerungen mit jenem Ereignis, das ihr ganzes Leben verändert hat: dem Verlust der ostpreußischen Heimat nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

Ende 1944 – ich war damals anderthalb Jahre alt, meine Mutter 24 – wurde mein Vater zum Militärdienst eingezogen. Wir sahen ihn niemals wieder, er gilt bis heute als verschollen. Weil die Lebensmittelversorgung auf dem Land erheblich besser war als in den Städten, zog meine Mutter mit mir zu ihren Eltern Minna und Wilhelm Fenske, die rund 150 Kilometer östlich von unserem Wohnort Heiligenbeil in Wilhelmshof einen Bauernhof besaßen.

Anfang 1945 erreichte die Front Ostpreußen. Verschreckt durch die Ankündigung des Gauleiters Erich Koch, dass jeder Bauer standrechtlich erschossen wird, der seine Scholle verlässt, zögerte unsere Familie zu flüchten. Zur Familie gehörten meine Großmutter, meine Tante Irmgard Reuter mit ihren Kindern Siegfried und Brigitte, meine Mutter und ich. Mein Großvater war kurz vorher zum Volkssturm eingezogen worden.

Erst als die donnernden Geräusche von Geschützen zu hören waren, entschloss sich unsere Familie zur Flucht. Drei Fremdarbeiter – zwei Italiener und ein Franzose – halfen uns, sechs Pferdewagen zu beladen, mit denen wir in Richtung Norden fuhren. Ich kann mich an diese Ereignisse nicht wirklich bewusst erinnern, aber wie meine Mutter mir später erzählte, war die Flucht grausam. Sie hat Pferdewagen mit Menschen gesehen, die von sowjetischen Panzern überrollt wurden. Die Straßen waren übersät von Kadavern und Leichen – mitunter erschossen wie bei einer Hasenjagd.

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Fluchtroute 1945 (zum Vergrößern bitte anklicken)
Gretes Wohnort Heiligenbeil (oben), der Bauernhof der Eltern in Wilhelmshof (unten) und ihr Fluchtweg, der sie und ihre Familie Anfang 1945 bis in die Nähe von Heilsberg führt

Nachdem unsere Flucht durch sowjetische Soldaten gestoppt wurde und wir auf den Bauernhof meiner Großeltern zurückgekehrt waren, begann eine lange Leidenszeit. Der Hof lag etwa 500 Meter von der Verbindungsstraße zwischen Wilhelmshof und Friedrichshof entfernt. Wir Kinder spielten häufig auf einem kleinen Sandhügel neben der Scheune und konnten sehen, wenn dort sowjetische Fahrzeuge vorbei fuhren. Bogen sie in den Weg zu uns ein, rannten wir ins Haus und riefen “Die Russen kommen“. Meine Mutter und meine drei Jahre jüngere Tante liefen dann zum Herd und beschmierten sich ihr Gesicht, die Arme, die Hände und die Beine mit Asche. Dieser Trick war, wie mir meine Mutter später erzählte, sehr hilfreich: Weil die Soldaten eine Abscheu vor so schmutzigen Frauen hatten, blieben sie von Vergewaltigungen verschont.

Eine schreckliche Szene ist mir persönlich noch gut in Erinnerung, obwohl ich damals erst zweieinhalb Jahre alt war. Im Frühherbst 1945 holten Soldaten alle arbeitsfähigen Frauen und Männer aus ihren Häusern ab, um sie in Arbeitslager in die Sowjetunion zu bringen. Sie kamen auch zu uns und wollten meine Mutter und meine Tante mitnehmen. Wir Kinder sollten von der Oma versorgt werden. Wir weinten sehr laut und klammerten uns an unsere Mütter. Daraufhin entschied der Führer der Gruppe, dass nur eine der jungen Frauen mitkommen und die andere die Kinder weiter versorgen sollte. Glücklicherweise entschied sich meine Tante Irmgard mitzugehen. Sie konnte aber kurz vor dem Abtransport fliehen und stand einige Wochen später wieder vor unserer Tür.

Nach 1946 gab es in unserer Gegend weniger sowjetische Soldaten, auch deren Belästigungen hörten auf. Dafür kamen immer mehr Polen, die noch all das, was uns verblieben war, plünderten. Besonders quälte uns in dieser Zeit der Hunger, da es keine Ernte und keine Vorräte gab. Im Sommer kochten die Erwachsenen aus Sauerampfer, Brennnesseln und Buchweizenkörnern eine Suppe. Dafür plünderten sie die Nester der Vögel und kochten die Jungvögel in der Suppe, egal was sie fanden: Amseln, Drosseln oder Spatzen. Wir versuchten einige Kartoffeln zu pflanzen, aber sie waren am nächsten Tag verschwunden. So warteten wir voller Ungewissheit auf die Zukunft. In den größeren Städten gab es gelegentlich Hilfspakete aus Schweden, die uns auf dem flachen Land aber nicht erreichten.

An ein besonderes Ereignis kann ich mich noch sehr gut erinnern. Zu Ostern 1947 hatten die Erwachsenen für uns Kinder jeweils ein Hühnerei beschafft. Sie kochten Zwiebelschalen im Wasser und färbten darin die Eier rötlich braun. Die versteckten sie im Garten, und wir mussten sie suchen. Ich fand mein Ei unter einer großen Tanne.

Wir wurden in dieser Zeit von der Behörde aufgefordert, die polnische Staatsangehörigkeit anzunehmen, was wir aber ablehnten. Eines Tages im Herbst 1947 klopfte dann ein polnischer Mann, er hieß Adam Grimelsky, an unsere Tür und sagte uns, dass er unser Haus haben möchte und wir ausziehen sollten. Meine Oma, die aus Masuren stammte, sprach gut polnisch. Sie ging sofort zur polnischen Kommandantur und beschwerte sich in polnischer Sprache so heftig, dass die Beamten sehr unsicher wurden, weil sie nicht wussten, ob sie eine deutsche oder eine polnische Frau vor sich hatten. Aber auch sie bestätigten, dass der polnische Mann unser Haus übernehmen dürfe und wir es verlassen müssten. Nach langen Verhandlungen gab es nur eine Lösung. Da wir ohnehin nicht die polnische Staatsangehörigkeit annehmen wollten und nun auch keine Unterkunft hatten, wurde festgelegt, dass wir mit dem nächsten Aussiedlerzug nach Deutschland ausgewiesen würden. Darüber waren wir sehr froh.

Die Erwachsenen nähten aus Teppichen Rucksäcke, in die sie Kleidung und weitere Wertsachen verstauten. Geschirr, Schuhe und weitere Habseligkeiten packten sie in eine Zinkwanne. Das wenige Geld wurde am Körper versteckt oder in die Kleidung eingenäht. Da meine Tante Irmgard zwischenzeitlich die Nachricht erhielt, dass ihr Ehemann Hans in Hessen lebte, beantragte sie eine Ausreise in diese Richtung, was von den polnischen Behörden auch genehmigt wurde. Somit trennten sich unsere Wege.

Am Bahnhof angekommen wurden meine Oma, meine Mutter und ich von den Polen nach Wertsachen untersucht. Sie tasteten die Kleidung ab, wir mussten die Schuhe ausziehen und sie durchwühlten unser Gepäck. Was ihnen wertvoll erschien, nahmen sie uns weg – unter anderem den goldenen Ehering meiner Mutter. Dann mussten wir in einen Viehwagen des Aussiedlerzuges steigen. Es gab keine Sitzbänke und so nutzten wir die Wanne als Sitzgelegenheit. Nach langem Warten setzte sich der Zug in Bewegung. Als er später auf der Brücke über die Oder anhielt, nahm meine Mutter mich auf den Arm, zeigte mir durch eine Öffnung des Wagens den Fluss und sagte: „Junge, jetzt verlassen wir unsere Heimat.“ Ich habe erst später verstanden, was sie damit meinte.

Der Zug brachte uns in die Nähe von Berlin, wo wir in einem Barackenlager untergebracht wurden. Zu Beginn mussten wir in einem Raum duschen. Dann wurde uns weißes Pulver auf den Kopf gestreut. Wie wir anschließend erfuhren, sollte es die Läuse in unseren Haaren abtöten. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir die Toiletten: Auf einem Brett mit Löchern saßen Männlein und Weiblein einträchtig in bunter Reihe zusammen in einem Raum und verrichteten ihre Notdurft.

Nach 14 Tagen verließen wir das Barackenlager und fuhren mit dem Zug nach Naumburg. Dort wurden wir in einem Raum für drei Personen in der Nähe von Weißenfels untergebracht. In dieser Zeit hatte ich die Masern und meine Mutter eine Blutvergiftung im Arm, die gerade noch im letzten Moment erkannt und behandelt wurde.

Zwischenzeitlich erhielten wir die Nachricht, dass mein zum Volkssturm eingezogener Großvater mittlerweile in der Nähe von Oldenburg lebte. Zu ihm wollten wir. Also bereiteten wir im Frühjahr 1948 die Flucht in die britische Besatzungszone vor. Damals erhielt man viele Ratschläge und auch Adressen an die man sich wenden konnte, um die Grenze illegal zu passieren.

Eines Tages brachen wir mit allem, was wir aus Ostpreußen mitgebracht hatten, auf und fuhren mit dem Zug bis an die Grenze bei Wittingen. In einem Gasthof ließen mich meine Mutter und Großmutter allein, um mit einem, wie man heute sagen würde, Schlepper die Flucht zu besprechen. Nach einiger Zeit kamen sie mit einem Mann zurück. Da noch etwas Zeit war, setzte er sich zu uns. Dabei packte er etwas aus und gab es mir. Es war ein weißes Teil mit dunkelroten runden Scheiben belegt. Ich schaute meine Mutter fragend an, was ich damit machen sollte. Sie sagte, das ist ein Butterbrot mit Wurst, das kannst du essen. Ich hatte vorher noch nie ein belegtes Brot gesehen. Wir aßen meistens nur trockenes Brot oder beschmiert mit Margarine.

Nachdem ich mein Brot aufgegessen hatte, es schmeckte hervorragend, standen die Erwachsenen auf, nahmen unser Gepäck und wir gingen in dunkler Nacht zur Grenze. Der Mond schien ein wenig, so dass wir die Umgebung noch erkennen konnten. Endlich kamen wir an einen Maschendrahtzaun, der im unteren Bereich nach oben gebogen war, so dass dort ein Loch entstand. Der Schleuser, übrigens ein Grenzpolizist, erhielt von meiner Mutter eine Belohnung, die aus Zigaretten und anderen Tabakwaren bestand. Er sagte zu uns: „Ihr geht erst 20 Meter durch das Gebüsch, dann kommt ihr auf eine Straße, die ihr nach links gehen müsst. Nach 2 Kilometern findet ihr ein Gasthaus und von dort geht ihr weiter nach Wittingen zum Bahnhof. Aber seid vorsichtig auf der Straße, sie ist sehr zerstört und voller Bombentrichter.“

Wir krochen unter dem Zaun hindurch, fanden die Straße und machten uns auf den Weg. Da es noch dunkel war, mussten wir natürlich sehr vorsichtig sein wegen der vielen Unebenheiten auf der Straße. Ein Ereignis ist mir dennoch gut in Erinnerung geblieben. Meine Großmutter stolperte und fiel in einen Bombentrichter. Der Rucksack flog über ihren Kopf. Als ich dies sah, schrie ich ganz laut: “Der Oma ist der Kopf abgerissen.“ Dem war dann doch nicht so. Meine Großmutter krabbelte aus dem Loch und wir gingen weiter.

Im Gasthof angekommen, erhielten wir eine warme Brühe und ruhten uns erst einmal aus. Wahrscheinlich bin ich auch eingeschlafen. Am nächsten Morgen gingen wir zum Bahnhof in Wittingen und fuhren mit dem Zug erleichtert nach Hude im Landkreis Oldenburg. Dort sah ich zum ersten Mal bewusst meinen Großvater Wilhelm Fenske. Er holte uns mit Pferd und Wagen vom Bahnhof ab. Es war eine herzzerreißende Szene, als meine Großmutter und meine Mutter ihm in die Arme fielen und vor Freude weinten. Wir fuhren dann 6 Kilometer bis nach Hurrel, wo mein Großvater auf dem Hof von Gerhard Janzen lebte.

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Gretes Weg von Ostpreußen nach Hurrel nach der Ausweisung im Herbst 1947
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Während meine Mutter sich mit meinem Großvater eine Kammer auf dem Janzen-Hof teilte, wurden meine Großmutter und ich in einem kleinen, reetgedeckten Haus in einem Zimmer untergebracht. Dort gab es nur ein Bett, in dem ich mit meiner Großmutter schlief. Das Haus war eine Rauchkate ohne Schornstein. Der Herd hatte ein kurzes Ofenrohr, durch das der Rauch in den Raum strömte und sich dann seinen Ausgang über die Diele, auf der eine Kuh und zwei Schweine untergebracht waren, suchen musste. Die Wände waren schwarz und schmierig vom Rauch. In dem Haus lebten außer uns eine ältere Frau, Gesine Grummer, und ihre Tochter Alwine. An Vergiftungen durch Kohlenmonoxid dachte wohl niemand. Es waren sehr nette Frauen. Am Abend saßen wir oft zusammen in ihrem Wohnzimmer. Dann kam auch meine Mutter dazu, die tagsüber bei Gerhard Janzen arbeitete.

Nach unserer Ankunft waren wir glücklich und zufrieden, endlich ohne Angst leben zu dürfen. Aber es gab noch ein Problem zu lösen. Wir waren nun in der britischen Zone und mussten offiziell unseren Wohnsitz anmelden, um dort zu wohnen und auch die notwendigen Lebensmittelkarten zu erhalten. Hierfür benötigten wir eine Zuzugsgenehmigung. Ein Dokument, das der zuständige Beamte auf dem Landratsamt in Oldenburg für meine Großmutter unter dem Bezug auf Familienzusammenführung ohne Einwände ausstellte.

Bei meiner Mutter und mir sah die Angelegenheit schon anders aus. Der Beamte erklärte meiner Mutter, dass wir beide keine Zuzugsgenehmigung erhalten würden und unverzüglich wieder in die sowjetische Besatzungszone zurückkehren müssten. Er drohte sogleich mit polizeilichen Maßnahmen.

Am Abend dieses Tages flossen viele Tränen, denn wo sollte eine Kriegerwitwe mit ihrem Sohn hin? Irgendwann stand Gerhard Janzen auf, nahm ein langes Messer und ging in die Speisekammer. Dort schnitt er ein Stück Schinken, ein Stück Speck und ein Stück Wurst ab, wickelte einige Eier in Zeitungspapier und verschnürte alles in ein Paket. Das gab er meiner Mutter und sagte: “Morgen fährst du wieder zu dem Beamten.“ Was meine Mutter auch mit viel Herzklopfen tat. Als sie beim entsprechenden Beamten zur Tür herein kam, schaute er sie mürrisch an und sagte, dass er ihr doch gestern schon mitgeteilt habe, dass sie keine Zuzugsgenehmigung erhalten würde. Da reichte meine Mutter ihm das Paket unter dem Tisch. Er ergriff es, schaute nach rechts und nach links, nahm das Antragsformular, stempelte es ab und unterschrieb es wortlos. Durch diesen glücklichen Vorgang erhielten wir unsere Zuzugsgenehmigung.

Im Jahr nach unserer Ankunft zog ich mit meiner Mutter, den Großeltern und der Familie von Kurt und Else Klingbeil in eine ehemalige Wehrmachtbaracke um. Sie hatte vorher auf dem Grundstück von Georg Tönjes gestanden und konnte auf ein von der Gemeinde Hude gepachtetes Stück Land an der B 75 umgesetzt werden. Die Pacht betrug 25 Mark im Jahr. Es war Ödland mit viel Heidekraut. Die Männer gruben einen Brunnen, aus dem wir Wasser mit einem Eimer schöpfen konnten. Es gab kein fließendes Wasser, jeder Eimer Wasser musste in das Haus getragen werden. Auch eine Abwasserleitung gab es nicht. Das Abwasser wurde in einem Eimer aufgefangen; war dieser voll, wurde er in den nahe gelegenen Graben ausgeschüttet.

Unsere Hälfte der Baracke enthielt drei Räume von je 9 Quadratmeter Größe. Als Möbel hatten wir einen alten Herd und drei Eisenbetten. Matratzen wie wir sie heute kennen, besaßen wir nicht. Die Erwachsenen nähten aus Kartoffelsäcken matratzengroße Säcke, in die sie Stroh stopften. Darauf haben wir gut und weich geschlafen. Meine Großeltern schliefen in einem Zimmer, meine Mutter und ich in einem Bett in einem anderen. Das dritte Zimmer war Küche, Esszimmer und Kommunikationsraum, hier hielten wir uns am Tage auf. In den Zimmern hatten wir keine Öfen. Im Winter waren an kalten Tagen die Wände mit Eis überzogen. Lediglich in der Küche heizte der Herd den Raum.

Die Fenster waren sehr undicht mit einfachem Glas. Im Winter zog kalte Luft durch die Ritzen. Gebadet wurde immer am Sonnabend in der Zinkwanne, die wir aus Ostpreußen mitgebracht hatten. In einem großen Topf wurde auf dem Herd das Badewasser erhitzt und in die Badewanne gegossen. Da wir nicht so viel Wasser erhitzen konnten, wie wir für eine Wannenfüllung brauchten, wurden zusätzlich große Steine im Backofen erhitzt, die dann ebenfalls in das Badewasser hineingelegt wurden. Für mich war das ein spannender Vorgang, denn immer, wenn die Steine ins Wasser gelegt wurden, zischte und dampfte es ganz fürchterlich. Als erster wurde ich gebadet, dann folgten meine Mutter, meine Großmutter und zuletzt mein Großvater. Alle badeten im gleichen Wasser, es wurde nur durch neues, heißes Wasser aufgefüllt.

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Foto der Baracke an der B 75, aufgenommen in den 60er Jahren
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Da wir keine Möbel hatten, holte mein Großvater von einem nahe gelegenen Sägewerk Bretter und Holzleisten. Daraus zimmerte er einen Tisch, vier Stühle und eine Fußbank. Da die Bretter nicht gehobelt waren, mussten wir vorsichtig sein, um unsere Kleidung oder freie Körperteile nicht durch die rauen Oberflächen zu verletzen. Oft hatte ich im Sommer Holzsplitter in Oberschenkeln oder Armen. An den Wänden wurden Bretter als Ablage für das Geschirr und für Kleidungsstücke befestigt.

Da wir bis 1955 keinen Strom hatten, besaßen wir weder elektrisches Licht noch andere Elektrogeräte. Zum Leuchten am Abend hatten wir eine Petroleumlampe. Sie war sehr empfindlich. Wenn man sie anzündete, konnte es passieren, dass der Glaszylinder in viele Einzelteile zersprang, weil er kalt war und die Wärme der Flamme ihn urplötzlich erwärmte. Wenn dies passierte, war für uns der Tag zu Ende, und wir gingen ins Bett. Kerzen besaßen wir nicht.

In der Baracke gab es keine Toilette. Mein Großvater zimmerte aus Holz ein kleines Häuschen, in dem er ein Brett mit einem Loch einbaute. Wenn wir dieses Plumpsklo bei Dunkelheit benutzen wollten, mussten wir eine Sturmlaterne anzünden, damit wir den Weg fanden. Trotz dieser einfachen Lebensumstände habe ich meine Mutter und meine Großeltern nie jammern gehört. Sie hatten sich mit ihrem Schicksal abgefunden.

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Roggenernte neben der Baracke in den 50er Jahren
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Wir hatten in dieser Zeit wenig Geld. Mein Großvater und meine Mutter mussten einmal in der Woche sechs Kilometer nach Hude gehen und später mit dem Fahrrad fahren, um persönlich beim Arbeitsamt zu erscheinen und die Arbeitslosenunterstützung abzuholen. Dabei fällt mir noch eine Kuriosität ein. In den ersten Jahren hatten wir nur ein Fahrrad. Damit konnten zwei Erwachsene aber nicht zusammen fahren, also erleichterten sie sich den Weg, indem jeweils einer von beiden eine Strecke von vielleicht rund 200 Metern mit dem Fahrrad fuhr, das Fahrrad dann an einen Baum stellte und weiter zu Fuß ging. Der andere kam zu Fuß beim Fahrrad an, bestieg es und fuhr damit weiter, überholte den anderen, fuhr dann noch 200 Meter weiter und stellte es an den nächsten Baum. So wechselten sich meine Mutter und mein Großvater ab, bis sie im Hude angekommen waren. Ob diese Technik insgesamt ein schnelleres Erreichen des Zieles ermöglichte, kann ich nicht beurteilen. Aber sie hatten das Gefühl, schneller voran zu kommen.

Im April 1950 wurde ich eingeschult. Dazu kaufte mir meine Mutter einen Tornister aus Presspappe, der mit einer schwarzen Lackschicht überzogen war. Zum Schreiben erhielt ich eine Schiefertafel, einen Griffel aus Schiefer als Schreibstift und einen Lappen, mit dem ich die Schrift auf der Tafel löschen konnte. Als ich im vierten Schuljahr war, wollte meine Mutter, dass ich aufgrund meiner guten Zeugnisnoten nach Oldenburg zur Mittelschule gehen sollte. Damals brauchte man eine Zeugnisabschrift von der Schule zur Anmeldung. Als meine Mutter diese von unserem Lehrer August Meyer anforderte, sagte er ihr, es habe keinen Zweck, einen Vertriebenen-Jungen wie mich auf eine höhere Schule zu schicken. Ich könne doch bei den Bauern als Knecht arbeiten oder wenn ich unbedingt etwas lernen möchte, beim örtlichen Schmied in die Lehre gehen. Gott sei Dank blieb meine Mutter standhaft – mit einem Spruch, den ich mehrfach zu hören bekam: Mein Sohn soll es einmal besser haben als ich, und dafür werde ich alles tun.

Oft tat mir meine Mutter leid – besonders im Winter, wenn sie beim Korndreschen bei den Bauern half, damit wir wenigstens etwas Geld hatten. Ich merkte es ihr an, wie ihr der Rücken schmerzte, aber sie war sehr tapfer und klagte nie. Sie hatte ein schweres Los. Da mein Vater verschollen war, wusste sie nicht, ob er im Krieg gefallen oder in Gefangenschaft geraten war. Bis 1955 kamen ja noch Kriegsgefangene aus der Sowjetunion nach Deutschland zurück und solange hoffte sie, dass mein Vater vielleicht dabei sein könnte.

Manchmal habe ich nachts im Bett geweint, wenn mir bewusst wurde, dass fast alle Freunde und Mitschüler einen Vater hatten, nur ich hatte keinen. Dies wirkte sich auch auf unsere wirtschaftlichen Verhältnisse aus. Durch den Fleiß meiner Großeltern und meiner Mutter brauchten wir nicht mehr hungern, aber wir hatten kein Geld, um etwas zu kaufen. Es war schon sehr traurig für mich, wenn im Dorf das Schützenfest gefeiert wurde. Während meine Freunde eine Mark von ihren Eltern erhielten, gab mir meine Mutter 10 Pfennige. Dafür konnte ich entweder einmal mit dem Karussell fahren, in der Schießbude auf eine Blume schießen oder mir eine Lutschstange kaufen. Den ganzen Nachmittag stand ich auf dem Rummelplatz und konnte mich nicht entscheiden, welche der drei Möglichkeiten ich wählen sollte. Meine Freunde hatten es da sehr viel leichter. In solchen Situationen sagte mir meine Mutter immer tröstend, wir dürfen nicht verzweifeln, wir müssen uns anstrengen, um vielleicht einmal eine bessere Zukunft zu erleben.

Diese bessere Zukunft begann 1955, als wir Anschluss an das Stromnetz erhielten und damit auch eine elektrische Beleuchtung. Für mich war das sehr wichtig: Nun konnte ich im Winter meine Schularbeiten bei hellem Licht machen. Auch finanziell ging es uns besser, da meine Mutter eine bescheidene Witwenrente erhielt.

Meine Mutter war, obwohl ich ihr einziges Kind war, sehr streng. Wenn ich in der Schule eine schlechte Note bekam, gab es gelegentlich ein paar Ohrfeigen und Hausarrest. Damals konnte man schlechte Noten nicht vor den Eltern verheimlichen, da jede Klassenarbeit nach der korrigierten Rückgabe von den Eltern als gesehen unterschrieben werden musste. Leider war ich in Rechtschreibung sehr schwach und bekam daher auch entsprechend schlechte Noten bei den Diktaten. Dann übte meine Mutter mit mir, indem sie mir Texte aus der Nordwest-Zeitung diktierte. Hatte ich viele Fehler bei diesen Übungen gemacht, wurden weitere Diktate geschrieben. Damit war das Spielen auf dem Hof vorbei.

Falls ich mal wegen irgendwelcher Dummheiten ins Klassenbuch eingetragen wurde, was selten vorkam, verabreichte sie mir ebenfalls einige Ohrfeigen und ich durfte nicht nach draußen. Somit war ich dazu verdammt, erfolgreich zu sein. Anderseits gewährte sie mir aber auch viele Freiheiten. Sonntags durfte ich mit dem Fahrrad nach Hude fahren und mir die Spiele des FC Hude ansehen. Falls ich etwas Geld hatte, erlaubte ich mir, anschließend im Kino Schauburg in Hude einem Film anzusehen.

Da die Busverbindung zur Mittelschule in Oldenburg sehr schlecht war und ich wegen des Nachmittags-Unterrichts oft erst nach 18.30 Uhr nach Hause kam, beschloss meine Mutter, mir im Frühjahr 1959 ein Moped zu kaufen. Da ich noch keine 16 Jahre alt war, musste ich beim Verkehrsamt in Oldenburg eine Sondergenehmigung beantragen, die ich auch nach einem längeren Gespräch mit dem Amtsleiter erhielt. Meine Mutter kaufte mir von ihren Ersparnissen eine Victoria Super Luxus. Da dieses Moped für zwei Personen zugelassen war, habe ich sie oft mitgenommen, was sie sehr erfreut hat.

Eine besonders schöne Zeit haben meine Mutter und ich in den drei Jahren von 1960 bis 1963 erlebt, als wir beide alleine in der Baracke wohnten. Ich hatte viele Freiheiten und durfte zum Beispiel am Sonnabend sehr lange zu Schützenfesten unterwegs sein. Meine Mutter vertraute mir auch, denn sie wusste, dass ich wohl keinen Unsinn anstellen würde. Manchmal kam ich erst morgens nach Hause, wenn es schon hell wurde.

Nachdem ich die Mittlere Reife an der Mittelschule Margaretenstraße in Oldenburg bestanden hatte, besorgte meine Mutter mir über den Dorfschullehrer August Meyer, dessen Haushalt sie führte, eine Lehrstelle als Kraftfahrzeugmechaniker bei der Firma Auto Martens. Sehr erfreut war sie, als ich nach schon drei Jahren – die reguläre Lehrzeit betrug dreieinhalb Jahre – meine Gesellenprüfung bestand. Für sie und auch für mich war es sehr wichtig, dass ich anschließend ein Ingenieurstudium absolvieren sollte.

Damals gab es häufig längere Wartezeiten an den Ingenieurschulen, aber in München konnte ich vier Monate nach meiner Gesellenprüfung – am 16. September 1963 – die Ausbildung zum Kraftfahrzeug-Ingenieur beginnen. So war ich fünf Monate in München und kehrte dann für circa einen Monat in den Semesterferien nach Hurrel zurück. In den Sommermonaten arbeitete ich bei einigen Bauern, um etwas Geld zu verdienen.

Trotz der Trennung war meine Mutter glücklich und tat alles, damit ich das Studium absolvieren konnte. Damals gab es leider keine staatliche Hilfe wie heute. Meine Mutter beantragte beim Landkreis Oldenburg eine Ausbildungsbeihilfe für mich als Halbwaisen; stieß damit beim zuständigen Beamten jedoch auf völliges Unverständnis. Er antwortete nur frech: “Ihr Sohn hat eine Ausbildung als Kfz-Mechaniker, der soll gefälligst arbeiten und braucht kein Studium.“ Trotzdem schickte meine Mutter mir jeden Monat 200 Mark. Von diesem Geld musste ich die Miete mit Nebenkosten, die Lebensmittel, die Straßenbahnfahrkarte und die Lehrmittel bezahlen. Ein warmes Essen konnte ich mir in dieser Zeit nicht leisten, denn eine Mensa hatte die Ingenieurschule nicht. Glücklich und stolz war meine Mutter, als ich 1966 meine Abschlussprüfung als Semesterbester mit der Note 1,7 bestand.

Von dieser Zeit an änderte sich unser Leben. Mein neuer Arbeitsplatz war bei Volkswagen in der technischen Entwicklung in Wolfsburg. An den Wochenenden kam ich regelmäßig zu meiner Mutter nach Hurrel. Es gab aber noch einen zweiten Grund, denn meine Verlobte und heutige Ehefrau Heike Schote wohnte in Hude. Mit ihr verbrachte ich das Wochenende entweder bei uns in Hurrel oder in Hude. Dabei möchte ich noch erwähnen, dass Heike in der Zeit, als ich in München studierte, jeden Sonntag mit dem Fahrrad meine Mutter und meine Großmutter besuchte. Es entwickelte sich eine innige Freundschaft zwischen allen dreien. Da meine Mutter in ihren Jugendjahren richtig Nähen gelernt hatte, fertigte sie für Heike viele schöne Kleider.

Leider kühlte das gute Verhältnis ab, als ich meiner Mutter eröffnete, dass Heike und ich im Oktober 1967 heiraten wollten. Sie glaubte, dadurch ihren einzigen Sohn zu verlieren. Dem war aber nicht so. Im Jahr 1968 kauften wir mit ihrer Beteiligung – sie ließ sich einen Teil ihrer Rente kapitalisieren – ein Grundstück in Gifhorn und bauten darauf ein Haus für zwei Familien. Die Wohnung im ersten Stock war für sie und meine Großmutter vorgesehen. Im Herbst 1969 zogen beide nach Gifhorn. Die Baracke in Hurrel übergab meine Mutter Georg Wieting, der sie anschließend abbaute. Heute zeugt nur noch der Brunnen vom ehemaligen Anwesen.

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Standort der ehemaligen Baracke, aufgenommen im Januar 2003
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Meine Mutter führte bis 1981 ein unbeschwertes Leben. Alles, worauf sie Jahrzehnte verzichten musste, war nun vorhanden: fließendes Wasser und Abwasser, eine Zentralheizung, Fernsehen oder Spaziergänge in der Innenstadt. Sie hatte Freude an den Enkelkindern Birgit und Bettina, wobei unsere ältere Tochter Birgit ihr besonderer Liebling war.

Leider stürzte im Jahr 1981 meine Großmutter Minna und erlitt einen Oberschenkelhalsbruch. Davon erholte sie sich zwar, doch es kamen mehrere Schlaganfälle hinzu und später erkrankte sie an Demenz. Meine Mutter, meine Frau und auch unsere Töchter pflegten sie zuhause bis zu ihrem Tod im Jahr 1986.

Anschließend veränderte sich das Leben meiner Mutter. Sie besuchte Kurse an der Volkshochschule, engagierte sich in der evangelischen Paulus-Kirchengemeinde und leitete dort den Bastelkreis der Alten-Begegnungsstätte.

Zum Schmunzeln gibt es noch eine besondere Begebenheit. Als im August 1988 in der Stadt Gifhorn ein neuer Bürgermeister gewählt werden musste, gehörte ich zu den heißen Kandidaten. Natürlich wurde darüber auch in unserer Familie gesprochen, und es kam zu einer demokratischen Abstimmung. Es ergab sich ein spannendes Ergebnis. Da meine Frau Heike und die älteste Tochter Birgit schon ahnten, dass ich durch noch mehr ehrenamtliche Aufgaben noch weniger Zeit für die Familie haben würde, stimmten sie dagegen. Meine Mutter – stolz darauf, dass ihr Sohn solch ein ehrenvolles Amt bekleiden würde – war dafür. Unsere jüngste Tochter Bettina fand es super, wenn ihr Vater Bürgermeister werden würde, also stimmte sie auch dafür. Da ich mich für dieses Amt beworben hatte, konnte ich auch nur dafür sein. Das Ergebnis war drei zu zwei für meine Kandidatur. Alle haben mich anschließend tapfer unterstützt. Meine Mutter hat es sehr gefreut. Als ich gewählt wurde, hat sie mit den Nachbarn am Wahlabend einen schönen Empfang für mich mit rotem Teppich und Fackeln organisiert.

Da meine Mutter sehr sparsam lebte und mietfrei wohnte, konnte sie auch Geld sparen. Sie wollte in Gifhorn ein Stück Land besitzen, das nur ihr gehörte. Also kaufte sie sich ein Baugrundstück, auf dem sie Gemüse und Kartoffeln anbaute. Für sie war dies ein Stückchen Heimat, an dem sie viel Freude hatte. Nach ihrem Tod habe ich das Grundstück meinen Töchtern übertragen und darauf ein Vier-Familien-Haus gebaut.

Leider konnte meine Mutter diese für sie schöne Zeit nur vier Jahre bis 1990 genießen. Kurz nach ihrem 70. Geburtstag erfuhr sie, dass sie schwer an Darmkrebs erkrankt war. Nach einer schweren Operation erholte sie sich aber wieder und besuchte mit ihrer Schwester Irmgard und deren Kindern Brigitte und Siegfried die alte Heimat in Ostpreußen. Alle vier verlebten schöne Tage in ihrem Elternhaus in Wilhelmshof, wo sie aufgewachsen war. Als meine Mutter zurückkehrte, war sie dennoch sehr frustriert darüber, was aus dem einstmals so schönen Anwesen geworden ist. Teile der Gebäude waren verfallen, einige Fenster mit Brettern zugenagelt.

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Wohnhaus (oben) und Viehstall mit Scheune in Wilhelmshof, aufgenommen bei einem Besuch im Jahr 2004 (zum Vergrößern bitte anklicken)

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Nach dieser Reise verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand zusehends. Nachts hatte sie Alpträume und schrie im Schlaf um Hilfe. Wahrscheinlich waren es Spätfolgen der Kriegszeiten. Ich bin oft nachts zu ihr nach oben gegangen, um sie zu wecken.

Am 11. März 1991 ist sie zuhause gestorben. Ihre Schwester Irmgard war noch in den letzten Tagen bei ihr. Sie wurde auf dem evangelischen Friedhof in Gifhorn beerdigt. Wir pflegen ihr Grab liebevoll, besonders meine Frau pflanzt dort immer wieder schöne Blumen. Im gleichen Grab ist auch unser bei der Geburt verstorbener Enkelsohn Nicklas beerdigt, so dass nun Ur-Oma und Ur-Enkel sich das Grab teilen.

Meine Mutter hat für mich alles getan, was nur möglich war. Sie hat für mich gesorgt, gearbeitet, gelitten und meinen Lebensweg positiv beeinflusst. Dafür danke ich ihr. Ihren Spruch „Mein Sohn soll es einmal besser haben als ich“ hat sie in die Tat umgesetzt.