Heinrich Wiese – Biographie

Heinrich Friedrich Wiese wird am 19. Juli 1919 als drittes Kind von Friedrich Wiese und Taalkea Wiese in Oldenburg geboren. Er ist der jüngere Bruder von August Johann Wilhelm Wiese und Frieda Ziessow.

Am Tag von Heinrichs Geburt säumen rund fünf Millionen Menschen die Straßen Londons, um der offiziellen Militärparade zum Sieg der Alliierten im Ersten Weltkrieg beizuwohnen. Aktiv nehmen 15.000 Soldaten aus zwölf Nationen teil, deren Weg vom Stadtteil Knightsbridge am Buckingham-Palast vorbei bis nach Whitehall führt. Dort enthüllt Großbritanniens König George V. ein zunächst nur provisorisch aus Holz und Gips gestaltetes Denkmal, das an die Toten und Verletzten des Krieges erinnern soll. Fünf Tage zuvor, am französischen Nationalfeiertag, hatte es in Paris bereits eine ähnliche Veranstaltung gegeben. Dabei war der eigentlichen Parade ein Zug von 1.000 Kriegsversehrten auf Krücken oder in Rollwagen vorausgegangen.

Während die Sieger erleichtert, aber keinesfalls euphorisch feiern, sortiert sich der Haupt-Verlierer Deutschland neu. Seit der Abdankung von Kaiser Wilhelm, der Ausrufung der Republik und dem im Januar 1919 niedergeschlagenen Spartakus-Aufstand vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo an politischen Stellschrauben gedreht wird. Auch im Juli nicht: Am Tag der französischen Siegesfeier etwa tritt in Weimar erstmals der thüringische Volksrat zusammen und berät über die Schaffung des Freistaats Thüringen.

Ebenfalls am 14. Juli stürzen Aufständische im französisch besetzten Birkenfeldde jure ein Teil des Freistaats Oldenburg – den Oldenburger Regierungspräsidenten Konrad Hartong und proklamieren die kurzlebige Republik Birkenfeld. Am 17. Juli verabschiedet der Landtag von Lippe in Detmold ein Gesetz über die ersatzlose Verstaatlichung des fürstlichen Besitzes. Einen Tag später beschließt der Landtag des Freistaats Braunschweig die völlige Trennung von Kirche und Schule, und in Anhalt tritt die von der Landesversammlung erarbeitete Verfassung in Kraft.

Auch in der Parteien-Landschaft herrscht Bewegung. So beginnt am 19. Juli in Berlin der erste Parteitag der DDP. Er dauert bis zum 22. Juli und bestimmt den evangelischen Theologen Friedrich Naumann zum Vorsitzenden. Eigenen Angaben zufolge zählt die im November 1918 gegründete Partei rund 900 000 Mitglieder. Seit Januar 1919 ist sie auf Reichsebene ein Teil der zusammen mit SPD und Zentrum gebildeten Weimarer Koalition. Ähnlich wie bei den Ereignissen in Birkenfeld gibt es bei der DDP eine direkte Verbindung nach Oldenburg – in Person von Helene Lange. Die 1848 in der Huntestadt geborene Reformpädagogin und engagierte Frauenrechtlerin gehört in den ersten Nachkriegsjahren zu den prominentesten Aushängeschildern des Linksliberalismus.

Wie es in Heinrichs Familie in jenen turbulenten Tagen und Wochen zugeht, ist nicht überliefert. Seine Eltern verwalten in Kirchhatten südöstlich des Ortskerns einen Bauernhof, der einer Oldenburger Familie gehört. Dort wächst Heinrich mit der vier Jahre älteren Schwester Frieda auf – der ältere Bruder ist bereits im Dezember 1917 an Diphtherie verstorben – und wird im Frühjahr 1926 in die Volksschule Kirchhatten eingeschult. Zu diesem Zeitpunkt hat sich sowohl die politische als auch die wirtschaftliche Lage der Republik deutlich gefestigt – die bis Ende 1923 andauernde Hyperinflation ist überwunden, und auch um die politischen Gegner vom rechten und linken Rand ist es deutlich ruhiger geworden. Bei der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 landet die KPD mit einem Stimmenanteil von 10,6 Prozent abgeschlagen auf dem vierten Platz, die NSDAP des Bierkeller-Putschisten Adolf Hitler holt sogar nur 2,6 Prozent.

Mit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise ändert sich das Bild abermals: Bei den vorgezogenen Reichstagswahlen vom 14. September 1930 steigt die NSDAP mit einem Ergebnis von 18,3 Prozent zur zweitstärksten Kraft hinter der SPD auf. Es beginnt die Zeit der von Reichspräsident Paul von Hindenburg erlassenen Notverordnungen, die den Nationalsozialisten weitere Wähler zutreiben. Eine Zerreißprobe auch für Heinrichs Familie: Anders als Mutter Taalkea scheint Vater Friedrich vom völkischen Weltbild der fanatischen Republik-Hasser, die im Januar 1933 an die Macht gelangen, durchaus angetan zu sein. Die Eltern trennen sich, woraufhin Taalkea Wiese zunächst in der Küche der Kirchhatter Gastwirtschaft „Zum Deutschen Hause“ arbeitet und danach in Hurrel eine Stellung als Haushälterin auf dem Hof von Dietrich Münstermann (heute: Karl-Heinz Ziessow) annimmt. Dort kümmert sie sich nebenher um Dietrichs nach einer Lähmung zum Pflegefall gewordenen Ehefrau Mathilde.

Heinrich wiederum arbeitet nach Schulentlassung und Konfirmation im Frühjahr 1934 als Müllergehilfe in Kirchhatten und von Juli 1937 an als landwirtschaftlicher Gehilfe auf dem zwischen Kirchhatten und Dingstede gelegenen Hof von Hans Grashorn. Am 2. November 1938 – eine Woche vor der Reichspogromnacht – beginnt sein Einsatz beim Reichsarbeitsdienst, der Anfang September 1939 nach dem deutschen Überfall auf Polen direkt in den Kriegsdienst übergeht.

Nach seiner militärischen Ausbildung in der 3. Kompanie des Infanterie-Ersatz-Bataillons 489 in Oldenburg nimmt Heinrich im Mai 1940 am Überfall auf die Niederlande, Belgien und Luxemburg teil. Nach der Eroberung der drei westlichen Nachbarländer bleibt er zunächst als Besatzungssoldat in Belgien, bevor er im Frühjahr 1941 der Deutschen Heeresmission in Rumänien zugeordnet wird. Deren wichtigste Aufgabe besteht darin, die für die Fortführung des Krieges enorm wichtigen Ölfelder von Ploiești gegen Sabotage und alliierte Fliegerangriffe zu schützen. Vom 3. Juli 1941 an ist Heinrich dann Teil jener Wehrmachtstruppen, die nach dem zwei Wochen zuvor erfolgten Überfall auf die Sowjetunion den Angriff weiter vorantreiben. Dabei kommt er am 6. August 1941 unter nicht näher bekannten Umständen in der Nähe der ukrainischen Stadt Ananjiw ums Leben.

Wie oft Heinrich sich in den Jahren zuvor bei seiner Mutter in Hurrel aufgehalten hat, lässt sich nur vermuten. Nach dem Tod von Mathilde Münstermann im März 1938 ist Taalkea Wiese die zweite Ehefrau von Dietrich Münstermann geworden. Dessen Hof gilt alten Wehrmachts-Unterlagen zufolge als Heinrichs letzter Wohnsitz, nach dahin schickt er auch regelmäßig Feldpostbriefe. So ist es nur folgerichtig, dass sein Name später auf dem örtlichen Denkmal für die Opfer des Ersten und Zweiten Weltkriegs Berücksichtigung findet – wenn auch mit falschem Geburtsdatum (17. Juli statt 19. Juli). Heinrichs sterbliche Überreste, zunächst im Dörfchen Zherebkove nördlich von Ananjiw begraben, ruhen Informationen der Deutschen Kriegsgräberfürsorge zufolge inzwischen auf dem Sammelfriedhof der rund 200 Kilometer nordöstlich gelegenen ukrainischen Großstadt Kropywnyzkyj. Zu finden sind sie in Block 14, Reihe 10, Grab 726.