Mathilde Sanders – Biographie

Mathilde Sanders wird am 15. Juni 1910 als fünftes Kind von Johann Kowski und Pauline Kowski in Kutten im Kreis Angerburg in Ostpreußen geboren. Sie ist die jüngere Schwester von Emilie Symon, Emil Kowski, Albert Kowski und Eva Apel und die ältere Schwester von Mariechen Fein und Meta Hillen.

Zwei Tage vor Mathildes Geburt sucht ein Jahrhundert-Hochwasser das zwischen Bonn und Koblenz gelegene Ahrtal heim. Nachdem es zuvor schon wochenlang viel geregnet hatte, lassen in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni 1910 starke Wolkenbrüche die Ahr und die in sie mündenden Bäche zu reißenden Strömen anschwellen. Späteren Berechnungen zufolge führt die Flutwelle rund 33 Millionen Kubikmeter Wasser, die sich an der Ahr-Mündung in den Rhein ergießen. Besonders hart trifft es den Haupt-Ort Adenau, der fast völlig überschwemmt wird. Bei Sinzig erreicht die Ahr eine Breite von bis zu 200 Metern, normalerweise sind es weniger als 20 Meter. Insgesamt fordert das Hochwasser mehr als 60 Menschenleben, zwischenzeitlich gehen die Behörden sogar von 150 bis 200 Opfern aus. Viele zunächst vermisste Bewohner konnten sich letztlich aber doch vor der Flut retten.

Fast zeitgleich spielen sich auch in Bayern dramatische Szenen ab. Am 14. Juni bringen starke Regenfälle den noch in den Höhenlagen Tirols liegenden Schnee zum Schmelzen, die Kombination aus Niederschlags- und Schmelzwasser lässt den Lech – nach dem Inn zweitgrößter Nebenfluss der bayerischen Donau – zu einem reißenden Strom anschwellen. Er reißt zahlreiche Brücken mit sich und zerstört unter anderem das Karolinenwehr bei Landsberg. In Augsburg gelingt es nur mit vereinten Kräften von Feuerwehr und Militär, die Trinkwasser-Versorgung der Stadt wenigstens in Teilen aufrechtzuerhalten.

Mindestens ebenso stark wie das Ahrtal und die Lech-Region leiden Mitte Juni 1910 Teile des Königreichs Ungarn unter Hochwasser. Im heute zu Rumänien gehörenden Komitat Krassó-Szörény spült die nach einem Wolkenbruch einsetzende Flutwelle mehrere Orte hinweg. Fast 260 Menschen sterben, darunter viele Kinder. Ein Großteil der Ernte ist vernichtet, über Monate hinweg kommt es zu Versorgungs-Engpässen.

Mathildes Heimat Ostpreußen ist von den Kapriolen, die das Klima in ihrem Geburtsjahr europaweit schlägt, eher weniger betroffen. Was nicht ausschließt, dass auch dort immer wieder extreme Wetter-Situationen Menschen in Gefahr bringen. So wie im Februar 1894, als ein Sturm vor Königsberg einen Damm brechen ließ, oder im besonders schneereichen Winter 1907/08. Zwei Jahre nach Mathildes Geburt ist dann der Sommer so heiß, dass es an den Königsberger Schulen der Überlieferung zufolge 25-mal hitzefrei gibt.

Das prägende Ereignis in Mathildes Kindheit dürfte gleichwohl der Ausbruch des Ersten Weltkriegs Anfang August 1914 sein. Schon zwei Wochen nach Kriegsbeginn rücken russische Truppen in Ostpreußen ein. Sie halten auch nach der Niederlage in der Schlacht bei Tannenberg den östlichen Teil der Provinz besetzt und können erst im Februar 1915 vertrieben werden. Bis dahin werden zahlreiche Städte und Dörfer zum Teil schwer verwüstet. Wie Mathilde, ihre Eltern und die älteren Geschwister – die jüngste Schwester Meta wird erst Ende 1917 geboren – diese schwierige Zeit konkret erleben und ob ihr Vater auf deutscher Seite als Soldat an den Kämpfen beteiligt ist, liegt heute allerdings im Dunkeln.

Mathildes Eltern arbeiten auf Gut Angerburg, einem der für die Region damals typischen Adelsgüter. Wie die meisten Ostpreußen dürften sie den Versailler Vertrag, der ihre Heimat nach dem im November 1918 verlorenen Krieg durch den Polnischen Korridor vom restlichen deutschen Staatsgebiet abtrennt, als Zumutung empfinden – und die rund um sie herum entstandene Zweite Polnische Republik möglicherweise auch als Bedrohung. Vielleicht ist das der Grund, warum kurz nach dem Abflauen der verheerenden Hyperinflation von 1923 als erstes Familienmitglied Bruder Emil seine Fühler Richtung Westen ausstreckt und sich im 1918 neu gegründeten Freistaat Oldenburg niederlässt. Beschäftigung findet er bei einem Bauern in Sage, einem Ortsteil von Großenkneten. Die nach Hause gerichteten Briefe fallen offenbar so positiv aus, dass Vater Johann beschließt, mit der ganzen Familie nachzukommen. Kurz nach der Konfirmation in der Kirche von Buddern heißt es deshalb für Mathilde, ihren Koffer zu packen und Nachbarn, Freundinnen und ehemaligen Schulkameraden Lebewohl zu sagen.

In Sage wohnt Mathilde mit ihrer Familie zunächst in einem angemieteten Heuerhaus. Schon bald kauft Vater Johann, der sich neben der Landarbeit als Milchwagen-Fahrer etwas hinzuverdient, ein kleines Grundstück im Nachbarort Bissel und beginnt dort mit dem Bau eines eigenen Hauses. Mathilde geht derweil bei mehreren Bauern der Umgebung in Stellung – anfangs in der Nähe von Beverbruch, später dann in Amelhausen und schließlich auf dem Hof von Heinrich Rodiek in Dingstede. Dort lernt sie ihren künftigen, in direkter Nachbarschaft des Rodiek-Hofes aufgewachsenen Ehemann Diedrich Sanders kennen.

Wann genau Mathilde und Diedrich ein Paar werden, ist nicht überliefert. Vor der Hochzeit arbeitet Mathilde noch als Dienstmädchen bei Lothar Dannemann, seit 1932 Nachfolger von Folkert Folkers als Pastor an der St.-Ansgari-Kirche in Kirchhatten, sowie auf dem Hof von Hinrich Janzen in Hurrel (heute: Daniela und Hans Mertsch). Für Hinrich und dessen beiden Söhne Gerhard und Johann besorgt Mathilde den Haushalt, nachdem die einzige Tochter Marie im November 1934 Karl Gode aus Altmoorhausen geheiratet hat und auf dessen Hof im Nachbardorf gezogen ist. Drei Monate nach der Hochzeit des Hoferben Gerhard Janzen mit Gretchen Rüdebusch aus Nordenholzermoor im Februar 1936 beendet Mathilde allerdings ihre Tätigkeit in Hurrel und tritt selbst vor den Traualtar, bevor noch einmal drei Monate später, im August 1936, Sohn Artur zur Welt kommt.

Zu diesem Zeitpunkt sind gerade die Olympischen Sommerspiele in Berlin zu Ende gegangen – für die seit Anfang 1933 in Deutschland regierenden Nationalsozialisten ein beträchtlicher internationaler Prestige-Erfolg. Danach fällt allerdings nach dem schon drei Jahre zuvor begonnenen Terror gegen Regime-Gegner und Minderheiten auch außenpolitisch die Maske: Dem Anschluss Österreichs, der auf das Münchner Abkommen folgenden Zerschlagung der Rest-Tschechei und dem Einmarsch ins Memel-Gebiet folgt am 1. September 1939 der Überfall auf Polen. Der Zweite Weltkrieg beginnt.

Mathilde erlebt all dies auf dem Hof ihrer verwitweten Schwiegermutter Katharine Sanders in Dingstede, auf dem neben ihr und Ehemann Diedrich noch dessen unverheirateter Bruder Johann wohnt. Diedrich und Johann arbeiten außer auf der rund fünf Hektar umfassenden Landwirtschaft als selbstständige Maurer und Bau-Unternehmer, bei ihnen ist unter anderem Arthur Pape aus Hurrel beschäftigt. Gleich zu Kriegsanfang wird Johann zur Wehrmacht eingezogen. Allerdings nur für ein halbes Jahr, da er bereits 1897 geboren ist und schon den Ersten Weltkrieg mitgemacht hat. Unmittelbar nach Johanns Rückkehr kommt Diedrich (Jahrgang 1908) an die Reihe. Sein Kriegseinsatz führt ihn im Rahmen des Unternehmens Weserübung zunächst nach Norwegen und nach dem Überfall auf die Sowjetunion an die Ostfront. Vom Tod seiner Mutter und von Mathildes erneuter Schwangerschaft – der zweite Sohn Dieter kommt im September 1944 zur Welt – erfährt er lediglich in Feldpost-Sendungen aus der Heimat.

Im Frühjahr 1945 überschlagen sich die Ereignisse: Während Mathilde mit ihren beiden Söhnen die Einnahme Dingstedes durch kanadische Truppen miterlebt, gerät Diedrich auf dem Rückzug vor der Roten Armee in russische Gefangenschaft. Sein genauer Aufenthaltsort ist heute in der Familie nicht mehr bekannt, doch schon bald nach der Kapitulation der Wehrmacht erhält Mathilde die Nachricht, dass er noch am Leben ist. Mehr noch: Da seine Fähigkeiten als Maurer auch in der Gefangenschaft gefragt sind, geht es Diedrich im Lager sogar vergleichsweise gut. Nach einer Verletzung am Schienbein wird er im September 1946 vorzeitig in die Freiheit entlassen. Damit hat er erheblich mehr Glück als Mathildes Bruder Albert und die Ehemänner ihrer Schwestern Eva, Mariechen und Meta, die allesamt nicht aus dem Krieg zurückkehren.

Arbeit gibt es für Diedrich in den ersten Nachkriegsjahren mehr als genug: In Dingstede und den benachbarten Dörfern sind diverse Gebäude zerstört oder befinden sich in einem schlechten Zustand. Sobald in den nach wie vor schwierigen Zeiten das nötige Material vorhanden ist, flicken Diedrich und Johann sie wieder zusammen, während Mathilde sich um Verpflegung, Haushalt, Hof und die beiden Kinder kümmert. Kurz nach Zusammenlegung von britischer, amerikanischer und französischer Besatzungszone zur Bundesrepublik Deutschland kommt im September 1949 mit dem jüngsten Sohn Günter noch ein drittes Kind hinzu. An der bewährten Arbeitsteilung der Erwachsenen ändert das nichts – abgesehen davon, dass Johann sich nach Beseitigung der gröbsten Schäden wieder stärker auf die Landwirtschaft konzentriert. Dafür steigt der älteste Sohn Artur nach seinem Schulabschluss in die väterliche Firma ein.

In den 50er und 60er Jahren erlebt der im Frühjahr 1920 gegründete Heimatverein Dingstede eine neue Blütezeit, die Diedrich lange Jahre als erster Vorsitzender mitgestaltet. In seinem Schlepptau ist Mathilde bei vielen Veranstaltungen wie Kohlfahrten oder Tagesausflügen dabei. Eine etwas längere Reise führt sie und Diedrich im Mai 1961 nach Holland, wo beide anlässlich ihrer Silberhochzeit insgesamt acht Tage verbringen. Zwei Jahre später beginnt Artur – seit 1956 in Hurrel mit Lore Mehrings verheiratet – mit dem Bau eines Eigenheims in Dingstede, so dass Mathilde ihre beiden 1957 und 1960 geborenen Enkelkinder Uwe und Meike bald darauf ganz in ihrer Nähe aufwachsen sieht.

Das unter anderem durch die erste Mondlandung in die Geschichte eingegangene Jahr 1969 beginnt für Mathilde mit der Geburt des dritten Enkelkindes Ralf auf Wangerooge, wohin es den mittleren Sohn Dieter in der Zwischenzeit verschlagen hat, und endet in tiefer Trauer: Am 31. Oktober stirbt Diedrich völlig unerwartet an einem Herzschlag.

Zwischen Oktober 1971 und Oktober 1981 kommen mit Günters Kindern René, Andrea und Julia noch drei weitere Enkelkinder hinzu. Mit ihnen wohnt Mathilde unter einem Dach, denn Günter und dessen Ehefrau Ilona haben inzwischen den nicht mehr bewirtschafteten Sanders-Hof übernommen. Dort erlebt Mathilde bei jeweils guter Gesundheit ihren 80. und auch ihren 90. Geburtstag. Für die Feier des 95. Geburtstags reicht es dann nicht mehr ganz: Mathilde stirbt am 6. Dezember 2004 im Alter von 94 Jahren und wird vier Tage später auf dem Neuen Friedhof in Kirchhatten beerdigt.